Foto: Szene aus Herbert Fritschs wilden "Banditen" am Theater Bremen. © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 22. Oktober 2012
„So einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gesehen“, hüstelt ein Premierenbesucher in der Pause, irritiert, amüsiert und so erregt, dass er auch die zweite Hälfte nicht verpassen will. In seiner ersten Musiktheaterregie hat Herbert Fritsch „Die Banditen“ nicht elegant bis heiter als spöttische Offenbachiade angelegt – nein: Die Schauspielgäste, Opernsänger, Choristen und das Orchester entfesselt er zu hochtourigem Operettenwahnsinn. Victoria Behr hat das Bühnenpersonal in bekannt gruselironischer Manier eines Tim-Burton-Films kostümiert, zugeschminkt und haardesignerisch grell auftoupiert. Unter der optischen Schrillschraubigkeit erkundet das spaßbeseelte Ensemble grenzgängerisch die eigene Kunstform, tollt über die Bühne, plumpst in einen Bombenkrater, schmeißt Kollegen hinein, hopst hinterher, donnert gegen Wände – kaspert eine Sinfonie verrutschender Gesichtszüge, Sprechakte, Gesangsdarbietungen und Bewegungen. Kaum eine Geste der Musik bleibt körperkomödiantisch unkommentiert. Wobei jede noch so kleine Aktion sofort Folgen für den Bewegungskanon aller Bühnenfiguren hat, sich dann häufig in den Slapstickleerlauf verselbstständigt, bis ein neuer körperclownesker Einwurf dazwischenfunkt. Bei aller Wildheit ist das ein präzise choreographiertes organisches Miteinander aller mit allen und allem. Dabei scheut Fritsch auch vor Selbstzitaten nicht zurück. Bei seinem „Puntila“ in Köln ließ er zum Thema Theatermusikkomponisten witzeln: „Ist das Dessau? Nein, Köln!“. Jetzt heißt es: „Ist das Offenbach? Nein, hier ist Bremen!“
Jacques Offenbachs Opéra-bouffe legt bereits eine Täuschungs- und Verkleidungsorgie vor – mit raubenden Gute-Laune-Banditen, korrupten und nichtsnutzig amüsierwütigen Machthabern, dumm-fauler Exekutive, gesinnungslosen Bankern und einem betrügerischen Schatzmeister, der mit Geld aus leeren Kassen operiert. Daraus könnte eine tagespolitische Kritik an Kapitalismus und Finanzmärkten inszeniert werden. Aber Fritsch lässt auch die edle Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten ungespielt. Unterschiedslos _alle_ sind hier Banditen, wollen nur „rauben, raffen“ und natürlich: Sex. Allerdings: Die Gierantriebe gilt es zu verbergen – ein Widerspruch, der diese surreal-expressionistische Theaterfantasie gebiert: grotesk verklemmte Fratzen werden entklemmt, vom inneren Überdruck befreit zum wiederum grotesken Grimassieren. Auch Kopulationsgezucke überwältigt immer wieder. Zungen züngeln. Hinter jeder Formulierung lauert Beischlafvokabular und -lust. „Wir wollen uns mal auf die Lauer legen“, sagt ein Bandit beim Anblick aller vor ihm aufgereiht Liegenden: „Aber wer ist denn die Lauer?“
Diese brachialkomische Feier vergeblicher Versteck-/Verkleidungsspiele schwappt auch in den Orchestergraben und legt sich opernparodistisch dem Gesangsensemble auf die Stimmbänder. Mit Gospel-getränktem Soul-Timbre wird intoniert, als flatterhafter Schlagerfuzzi gesungen, mit Jazz-Balladen-Schick arrangiert, Arioses im Falsett vorgetragen und Text mit Dialekt, Niesen oder Quaken gefüttert. Der Chor schmatzt den Rhythmus, sprengt die Partitur schreiend und arbeitet sich gern mal gekonnt abseits des Schönklangs an den Melodielinien ab. Titus Engel spielt mit dem Orchester, lässt es mal kakophonisch lodern, durch die Takte eiern, treibt Rasanz zur Raserei, erlaubt auch einem Banditen, AC/DCs „Highway to hell“ zu skandieren und dazu orchestralen Free Jazz zu dirigieren.
Eine Botschaft? Nein, so autoritär kommt Fritsch uns nicht. Er spendiert eine Lebenshaltung statt einer Werkinterpretation. Die Künstler wollen nicht aufklären, Sinn stiften – die wollen nur spielen. Ohne Theater wären alle nichts. Und verlassen die Bühne daher auch nicht, tröten zur Applaus-Polonaise immer weiter einen Offenbach-Ohrwurm auf Kazoos – der von den Zuschauern mit ansteckendem Pfeifen in die Welt hinausgenommen wird, der solch ein Lockerungsseminar des Anarcho-Trainers Fritsch noch fehlt.