Foto: Volker Lechtenbrink als Lear in der Hersfelder Stiftsruine. © Iko Freese / DRAMA
Text:Marion Schwarzmann, am 18. Juni 2012
Er kennt die Bühne wie seine Westentasche, steht er doch seit 1966 regelmäßig auf ihr und leitete sogar von 1995 bis 1997 die Bad Hersfelder Festspiele als Intendant. Nun kehrt der 67-Jährige zurück, um als König Lear die Apsis zu durchschreiten. Die Altersrolle schlechthin – auch für Volker Lechtenbrink eine enorme Herausforderung, der er in der soliden konservativen Inszenierung von Holk Freytag gerecht wird. Der Intendant geht bei seinen Produktionen kein Risiko ein, zu heikel ist die Frage der Finanzen und der Platzausnutzung, die in den letzten Jahren in Bad Hersfeld immer wieder heftig diskutiert wird. Deshalb werden erfolgreiche Stücke aus dem vergangenen Sommer wie „Der Name der Rose“ und „Das Dschungelbuch“ wieder auf den Spielplan gehievt, im Übrigen setzt man auf Promis wie Michael Schanze als singender Tevje in „Anatevka“.
Lechtenbrink macht den Wandel eines würdevollen Herrschers zum verwirrten, gebrochenen Greis glaubhaft deutlich. Dabei drückt er stimmlich mächtig auf die Tube, bringt die Verteilung seines Reiches an die Töchter allzu rasch hinter sich. Seine stärksten Momente hat er immer dann, wenn er sich Zeit für die Entwicklung seiner Gedanken nimmt. Der Höhepunkt schlechthin: Der Dialog mit dem geblendeten Gloucester – zwei geläuterte Väter beklagen einhellig ihr Schicksal.
Freytag verfügt über ein formidables Ensemble. Der Graf von Gloucester ist bei Bernd Kuschmann, der schon als William von Baskerville in „Der Name der Rose“ überzeugte, in allerbesten Händen. Auch Manfred Stella zeichnet mit Bedacht den treuen Weggefährten Lears, den Grafen von Kent. Zu den Umherirrenden gesellt sich Annika Martens’ kecker Narr, der mit flinker Zunge so manche Pointe setzt, sowie Julian Weigend als körperlich durchtrainierter Edgar, der sich am Ende einen wüsten Kampf mit seinem hinterhältigen Halbbruder Edmund liefert. Hier weiß Lars Weström die Facetten dieser intriganten Rolle leider nicht zu nutzen.
Bei den freundlich historisierten Kostümen von Michaela Barth stechen die edlen Roben der drei Lear-Töchter besonders hervor. Anja Brünglinghaus (Goneril) und Oda Pretzschner (Regan) führen den üblichen Zickenkrieg, während Kristin Hölck als jüngste ganz die sanftmütige, aufrichtige Lieblingstochter Cordelia gibt. In der entscheidenden Sturmnacht, in der ein zutiefst verletzter Vater Lear vor seinen abweisenden Töchtern flieht, setzt der Intendant raffiniert die Theatermaschinerie in Gang: Es donnert, blitzt und stürmt in der Stiftsruine, dass einem Angst und Bange werden kann. Nicht minder effektvoll: Wenn Gloucester mit dem lodernden Feuer geblendet wird, richtet der Regisseur gleißende Scheinwerfer auf das überraschte Publikum. Der Einsatz der drei Bläser tut sein Übriges: Je nach Anlass erklingen herrschaftliche Fanfaren oder bedrohliche Töne der Gefahr. Holk Freytag und sein Protagonist Volker Lechtenbrink haben die gewaltige Bühne fest im Griff. Da scheinen sich zwei Gleichgesinnte getroffen zu haben: Das Resultat jedenfalls kann sich sehen lassen.