Foto: Luis Lüps als Pater Lorenzo im Gespräch mit jungen Theatergläubigen. © Karl-Bernd Karwasz
Text:Jens Fischer, am 7. Juni 2013
Heute weder Hamlet noch Romeo. Auch keine Julia weit und breit. Aber Theater soll es trotzdem geben. Raus in die Stadt, her mit dem Live-Event, gemeinsam erleben, interaktiv gestalten. „Kommt zusammen!“ ist das Kollektiv-Projekt des Jungen Staatstheaters Braunschweig betitelt: Erstmals zeichnen alle Mitarbeiter für Regie, Ausstattung, Texte, Video, Dramaturgie, Spiel und Theaterpädagogik verantwortlich. Mit einem Parcours entlang von Spielstationen präsentieren sie Ästhetiken, mit denen ein Festival wie „Theaterformen“ in der Stadt schon einmal vorgefühlt hatte. Die Anregungen werden als eine Art Schnitzeljagd für ausgewachsene Kindergeburtstage inszeniert, die aber auch Mitmachkrimi ist. Gesucht werden, so viel roter Rahmenhandlungsfaden muss sein, Spuren des Romeo-und-Julia-Mythos und Zeichen einer Zeit, als sich Liebe in stürmischer Unmittelbarkeit noch radikal und rein, die Lebenslust wie Todessehnsucht anfühlte.
Da sitzt das Publikum (Menschen ab 12 Jahre) also friedlich im Theater, schnippelt Gemüse für die Hochzeitssuppe der berühmten Turtelkinder, da kommt die Stadtbummel-Theater auslösende Nachricht: Das sich trauen wollende Paar ist fort. Wie? Wohin? Warum? In Suchtrupps brechen alle ins historisch verwinkelte Magniviertel auf. Sie treffen in Hauseingängen, an Straßenecken, im Park, auf Bänken, in Hinterhöfen und Geschäften auf diverse Shakespeare-Figuren, die in gehetzt improvisierten Dialogversuchen mit Indizien über die Vermissten rausrücken. Aber auch Lebensweisheiten zum Pulsbeschleunigerthema Liebe-Freundschaft und Wegweisungen zum Besten geben. Tiefstapler und Tausendsassas der Mitmachzuschauer begegnen harten, verletzlichen, unverschämten Schauspielromantikern.
Vor der Kirche berichtet Pater Lorenzo in dahingefleztem Bayrisch vom Megastress, den die beiden Herzrasenden mit ihren verfeindeten Familien haben. Und verkündet Schiller-schlau einen Drum-prüfe-wer-sich-ewig-bindet-Rat: vorm Heiratsantrag erstmal ordentlich Erfahrungen sammeln und erkunden, was man so vom Miteinander will. Rosalind etwa will unbedingt Romeo zurück. Als seine Ex trägt sie ein Kleid aus vollgeheulten Papiertüchern und keift: „Diese Julia ist ja so hohl.“ Ihr Thema, klar: Eifersucht. Ihr Auftrag: MP3-Player als Audioguides aushändigen. Romeo schmalzt sogleich mit schwülstig geblähten Verführungsbetonungen in unsere Ohren, reimt auf Klaviergeklimper mit Shakespeare-Worten der Empfindsamkeit. „Wie die sich anschmachten: ekelhaft“, tönt Rosalind dazwischen. „Voll peinlich“ auch das schniefende Elend Mercutio: „Romeo ist mit dieser Bitch abgedampft, nicht mal eine SMS hat er mir geschickt!“ Er ist also wie auf so vielen Theaterbühnen zuvor mal wieder schwul, hat seinen besten Kumpel geliebt und sorgt nun für ein voll süßes Outing. Sein neuer Freund sammelt zwischendurch Sprüche, mit denen man an die Tür des Herzens pochen kann. Und notiert Rückmeldungen wie: „Ich bin vom ADAC, darf ich dich abschleppen.“ Schließlich erschreckt eine feenhafte Magierin recht zartfühlend die jugendlichen Besucher mit Weissagungen üppigen Kindersegens und berichtet stolz verschämt, auch Romeo und Julia die Zukunft verraten zu haben. Die beiden melden sich daraufhin per Videobotschaft aus der Zukunft. Gustav und Dora heißen sie jetzt, sehen aus wie unser aller Oma und Opa und geben zu, vor dem Schlamassel ihres Schicksals geflohen zu sein. Bei Mord, Totschlag, Suizid wollten sie nicht mitspielen.
Ihr Drama fand nicht statt. Findet nicht mehr statt? Ist das Lebensgefühl perdu, alles zu wollen, alles zu geben, alles verlieren zu können? Bleibt als Sehnsucht: gutbürgerliche Verrentung? Egal. Auch ohne Romeo und Julia wird am Hochzeitsbankett geluncht. Und anschließend sogar den Lehrern die Nachbearbeitung des beeindruckenden Spektakels abgenommen. In angeleiteten Kleingruppen entstehen Videoclips, Texte, Podcasts und Fotoserien sowie Klein-Skulpturen für ein großes Mobile. Das Ergebnis überrascht: Die Schüler achten darauf, dass der Kopf die Gefühle hinter sich herzieht. Beschrieben wird Liebe weniger in der utopischen Dimension eines auf Glücksdauer angelegten Konzepts, eher als fragiles Konstrukt: zum Hochhüpfen schön. Freundschaft erscheint als Gestaltungsaufgabe des Projektes Lebenskunst: zum Niederknien wichtig. Und wie beurteilen die Premierenbesucher das an ihrer Kreativität kitzelnde, verlässliche Ganztagestheater? „Cool“ steht im Gästebuch.