Foto: "Unter Verschluss" (DE) am Gostner Hoftheater in Nürnberg. Christine Mertens, Thomas Witte und Gerd Beyer © Gostner Hoftheater
Text:Dieter Stoll, am 22. Januar 2015
Es geht um ein Tauschgeschäft wider Willen, um Politik und Moral, ja auch um die Relativität der Wahrheit. Im Nervenkitzel-Drama „Unter Verschluss“ des Spaniers Pere Riera, das am Gostner Hoftheater in Nürnberg seine bemerkenswerte deutschsprachige Premiere hatte, wird über die Macht und ihren Missbrauch in kleiner Münze, aber harter Währung verhandelt. Ein Spitzenpolitiker mit „Hoffnungsträger“-Charisma steht im Verdacht, Minderjährige missbraucht zu haben – die Enthüllungs-Journalistin erfährt mitten im Schwung ihrer Moralkeule, dass die eigene Tochter am Schulhof mit Rauschgift dealt. Wer kann da wem mit welchen Beziehungen aus der Patsche helfen? Zunächst hilft nur Zynismus: „Mutter einer Drogenhändlerin im Gespräch mit einem Pädophilen – was für eine Quote“. Natürlich läuft es nicht so, wo kämen wir denn hin. Es lebe der diskrete Kompromiss.
Zu Beginn steigt die TV-Reporterin im Anlauf zur Live-Machtprobe vor laufender Kamera erst mal rollenkonform in ihre steilsten Stöckelschuhe, als wäre es der Schritt auf ein Trapez. Am Ende sucht sie immer noch oder schon wieder die Balance, weil die schallende Ohrfeige für den Lakaien seines Herrn (Präsidenten) im politischen Trickspiel denn doch kein Befreiungsschlag sein konnte. Er, der Sprecher des zu diesem Zeitpunkt bereits auf wolkigen Worten aus der akuten Krise entschwebten Staatschefs, hatte entspannt auf den Macho-Modus runtergeschaltet und anzüglich vom Unterschied zwischen „Klasse-Frauen und Frauen-Klasse“ schwadroniert. Da verfügt sein Chef über ganz anderes Schuft-Format. Mit kreidiger Stimme und jovialer Körpersprache umgarnt er die Widerspenstige von der Presse, sorgt sich scheinheilig um ihr Familienleben („Es ist leichter eine Wahl zu gewinnen als ein Kind zu erziehen“) und seift beiläufig auch noch den verunsicherten Zuschauer ein. Ist er nicht doch ganz nett? Thomas Witte gönnt dem Polit-Profi auf schiefer Bahn nur das nervöse Zucken des kleinen Fingers bei intakter Charme-Maske und stößt ein blinkendes Assoziations-Flippern an, bei dem von Brüderle über Guttenberg bis Edathy im Auge des Betrachters alle möglichen Figuren schemenhaft auftauchen dürfen, ohne ihre Reputation zu gefährden. Im Unterschied zur Realität ist kein Karriereknick zu vermelden.
Pere Riera, in Barcelona schon feste Kultur-Größe und fürs deutsche Theater nach dieser Premiere als Entdeckung zu werten, schrieb eine von Sarkasmus umspülte Text-Partitur, in der jeder pointierte Dialog sein Geheimnis und jede ausgequetschte Erkenntnis ihren Widerspruch in sich mitschleppt. Ständig wollen die drei Figuren, Alpha-Männchen gegen Karriere-Frau, ihre wahren Gedanken verbergen und gleichzeitig den Gegner manipulieren. Latente Zimmerschlacht unter Dialog-Glitzerfolie, oft nah an Yasmina Rezas Giftküchen-Gedankendramatik.
Regisseur Stephan Thiel vom Berliner „Theater unterm Dach“ spielt nicht vom Blatt, vertraut aber auf die Eigendynamik des geschliffenen Worts. In der neutralisierend trostlosen Studio-Atmosphäre (Bühnenbildnerin Halina Kratochwil spricht von einer „Zwischen-zwei-Terminen-Zone“) wird Sprache in Kampfposition gebracht, während das Unterbewusstsein für stumme Augenblicke des Kontrollverlusts albtraumartig in die Realität schwappt. Weder auf der Bühne noch im Parkett, wo man in der Erheiterung immer auch gleich ein wenig Fremdscham produziert, kann sich jemand seiner Gefühle sicher sein. Die aggressive Reporterin (schneidend scharf: Christine Mertens) taugt so wenig als ultimatives Opfer wie der kläffende Präsidenten-Assistent (überquellend vor Süffisanz: Gerd Beyer) als verbindlicher Kontrollfreak. Sie tasten nach Sprossen auf der Karriereleiter. Den Job des Sympathieträgers beherrscht hierarchisch exakt sowieso nur der Täter, und zwar unheimlich.
Ob die Affäre letztlich ein Skandal ist und wie weitreichend die Folgen der Kompromiss-Frivolität sind, kann die Aufführung – das ist ihr allergrößter Vorzug – tatsächlich in der Schwebe halten. Die Verunsicherung, der Treibstoff für die ganze Dreiecks-Geschichte, blieb auch nach dem Schlussbeifall, bei dem der angereiste Autor sein neues Publikum persönlich grüßte. Man war damit wohl auf beiden Seiten sehr zufrieden.