Foto: Susanne Lothar als Lulu in Peter Zadeks berühmter Inszenierung © Roswitha Hecke
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 18. April 2021
Ende der 1980er Jahre war es DAS Stück in Hamburg. Peter Zadeks „Lulu“ am Deutschen Schauspielhaus musste man offenbar gesehen haben. Also gut. Dann der auf mehrere Stunden ausgedehnte Schock… Bilder von Susanne Lothars schlackernden Brüsten und dem heftigst schwitzenden Ulrich Wildgruber gehören seither zum Archiv eindringlicher Erinnerungen.
1991 wurde die Inszenierung während der Ruhrfestspiele in Recklinghausen aufgezeichnet, mit annähernd identischer Premieren-Besetzung. Genau dreißig Jahre später stellt das Deutsche Schauspielhaus sie nun für die Dauer von 24 Stunden als Stream zur Verfügung: Pausenloses Netto-Theater von drei Stunden und dreißig Minuten bleibt zu sehen.
Zadeks Zugriff erregte seinerzeit schon im Vorfeld die Gemüter, weil er die sogenannte Urfassung von Wedekinds Drama zugrunde legte – also jene als „Monstretragödie“ bekannt gewordene Version, die noch nicht durch mehrfache Überarbeitung des Autors und auf Drängen der Zensur umgeschrieben worden war. Um genau zu sein: Es waren ursprünglich zwei Wedekind-Dramen, „Erdgeist“ (1895) und „Die Büchse der Pandora“ (1902) als dessen Fortsetzung, die der Autor selbst 1913 unter dem Titel „Lulu“ zusammenfasste.
Peter Zadeks fünfaktige Inszenierung beginnt mit einer Szene im Atelier jenes Malers, der Lulu im knappen grünen Badeanzug porträtieren soll – und ihr natürlich ebenso verfällt wie die meisten Männer. Drei Akte lang dauert der Aufstieg der triebhaften Kindfrau, die beiden letzten führen in die Katastrophe. Das durchweg hohe Tempo – Lulus Getriebenheit – wird allerdings durch den Bildschirm-Filter und die Filmschnitte eher gebremst, und Wildgrubers Transpiration in Großaufnahme fügt seiner Körpersprache nichts Wesentliches hinzu.
Großartig ist, dass man – innerhalb der 24-Stunden-Bereitstellung – jede Szene zurückspulen kann, um sich beim wiederholten Schauen auf ein anderes Detail zu konzentrieren oder zeitgleich Gesprochenes und Überbrülltes besser zu verstehen. Susanne Lothars selbstzerstörerisches Spiel auf diese Weise noch einmal miterleben zu können, ist sensationell. Das gilt insbesondere für den letzten Akt, den sie gemeinsam mit Heinz Schubert, Ulrich Tukur und Jutta Hoffmann dominiert. Die Verstörung der seinerzeit Maßstäbe setzenden Inszenierung ist auch heute noch nachvollziehbar, wenngleich die Wucht des Live-Erlebnisses im Film nicht eingefangen werden kann. Elend und Grauen am Ende hingegen vermitteln sich auch per Medium Film: Uwe Bohm als eine Art Jack the Ripper ermordet die billige Prostituierte Lulu – ihr Jahre zuvor formulierter Wunsch, einmal einem Lustmörder in die Hände zu fallen, erfüllt sich. Tatsächlich bringt der Abstand am Bildschirm die Momente absurden Humors besser zur Geltung, sie sind leichter erkennbar und besser wahrnehmbar als im Zuschauerraum eines Theaters.
Kleines Kuriosum der Aufzeichnung: Als zum ersten Mal Blut fließt, hat der Regisseur einen Cameo-Auftritt, als Dr. Bernstein spricht Peter Zadek am Ende des zweiten Akts einen einzigen Satz: „Wie ist es denn aber möglich, Herr Doktor?“