Foto: Szene mit Stefan Imholz und Nicole Lippold © Philipp Ottendo?rfer
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 6. November 2016
Er kann sich nicht mehr erinnern. Nicht an das erste Treffen, nicht an den Ort, nicht an die Worte. Richter Holgate hat gerade seine Frau verloren und mit ihr die Vergangenheit. Um sie zurückzuholen, trifft er sich mit dem Callgirl Lindy. Sie soll ihm das Glück der frühen Jahre vorspielen. Lindy (Isabell Giebeler) ist hibbelig und zerrt an dem altmodischen Kleid herum, als ob es ein Korsett wäre. Thomas Wolff als Richter mit Smoking und Stock wankt imposant ins Hotelzimmer, lässt den gangsterhaften Kellner Lance (Cédric Cavatore) springen, macht Smalltalk und setzt sich mit Lucy auf einem Bühnenpodest zum Essen nieder.
Aller Verabredung zum Trotz reicht Lindys kleinbürgerlicher Erfahrungsbestand für eine fiktive upperclass-Biographie nicht aus. Das merken beide. Doch dann lässt sich der Richter auf Lindys erfundene Fish-und-Chips-Romanze ein und das Paar tanzt schließlich einträchtig miteinander. Das Glück liegt in der Selbsttäuschung. Es ist eine berührende und zugleich abgründige Szene – wie immer, wenn Alan Ayckbourn seine dramatische Ambivalenzmaschine anwirft.
„Rondo“ ist Ayckbourns 78. Stück (inzwischen sind es bereits achtzig), zusammengesetzt aus fünf halbstündigen Szenen, die auf einen gemeinsamen 12-köpfigen Personalbestand aufbauen und diesen in verschiedenen Konstellationen variieren. Da ist die vermeintliche Theateragentin Gale, die von Gangstern bedroht wird und von dem fernsehsüchtigen Ashley gerettet wird; in einem Gemeindesaal trifft sie nicht nur die 16j-ährige Roz, die Schauspielerin werden will, sondern auch ihre Jugendromanze Russ, jetzt Pfarrer, den sie um Geld anbettelt; Roz wird von Gale an den pädophilen Politiker Axminster zum „Vorsprechen“ vermittelt; der Pfarrer kümmert sich um Blanche, die Tochter des Richters, die ihrer toten Mutter aus selbstverfassten Romanen vorliest; und der Richter trifft schließlich das Callgirl Lindy.
Der Clou dieses klug gebauten, wenn auch nicht großen Stücks besteht darin, dass die Abfolge der Szenen von den Theatern frei festgelegt werden kann. In Bielefeld geht Regisseur Christian Schlüter noch einen Schritt weiter und lässt jeden Abend die Reihenfolge durch das Publikum bestimmen. Zwei revuehaft aufgetakelte Conférenciers lassen in einem Showact Zettelchen aus einem Hut ziehen. Damit ist der Ton gesetzt. Obwohl die Spielstätte am Alten Markt ein intimes Haus ist, bedient die Regie mit Lust die Boulevard-Klaviatur. Laura Maria Hänsel als Theateragentin Gale reißt die Augen auf und gibt dem Hysterieaffen Zucker, wenn sie von dem Gangster Lance bedroht wird. Die Sätze stehen wie Werbesprüche einer angekündigten Pointe in der Luft. Ashley (Stefan Imholz, der auch den Politiker spielt) wiederum ist die Ausgeburt der Mutterfixierung: Fahrradhelm, Strickjacke und Waschzwang. Notorisch gewissenhaft fragt er der panischen Gale ihre Bedrohungslage ab, um sie dann in einer nachgespielten CSI-Nummer durch den Raum zu prügeln und Lance damit zu übertölpeln.
In Bielefeld ist Ayckbourns schräges Personal von Beginn an typenhaft zugerichtet. Die Ambivalenz der Figuren geht nicht als komisch-abgründige Doppelbödigkeit durch, sondern verkommt allzu schnell zur Pointe. Am deutlichsten in der „Politiker“-Szene. Da schneit die 16jährige Jungschauspielerin Roz (Henriette Nagel) mit Schuluniform und Ghettoblaster ins Büro des Abgeordneten Axminster. Voller Hoffnung auf ein Vorsprechen. Das Treffen mit dem alerten, übergeschäftigen Politiker, die von Roz überpsychologisiert angespielte „Möwe“-Szene und die „Ich bin geil“-Adaption eines Gilbert&Sullivan-Songs auf dem Tisch missraten allerdings zur Klamotte. Der Regie entgeht dabei Ayckbourns sarkastischer Witz, wie eine Frau in völliger Selbsttäuschung einem Pädophilen entgeht, Geld absahnt und dann einem Journalisten anheimfällt.
Die wissentliche und unwissentliche Selbsttäuschung (die keinen Zuschauer braucht) ist das große Thema in Ayckbourns „Rondo“ – und nicht das Theater, wie das Bühnenbild suggeriert. Anke Grot hat einen holzvertäfelten Raum mit Resopaltischen und Sesseln entworfen, in den eine kleine Theaterbühne mit Vorhang hineinragt. Illusion kann Antidot und Lebensstrategie sein – umso mehr, wenn die Figuren um ihre Einbildung wissen, ohne von ihr zu lassen. Am eindrücklichsten – neben der Richter-Szene – gelingt das am Ende, wenn Blanche (Nicole Lippold) als Ausbund der Biederkeit Pfarrer Russ (Jakob Walser) glaubhaft erzählt, wie sie ihrer toten Mutter aus ihrem selbstgeschriebenem 15. Roman vorliest. Mit irritierender Selbstverständlichkeit, die so komisch wie traurig ist, berichtet sie von den Funkklingeln ihrer Mutter, analysiert ihren Roman als völligen Schrott, hält ihn aber insofern für authentisch, als er einen Mord beschreibt: nämlich den, den Blanche an ihrer Mutter begangen hat – oder auch nicht. Hier gelingt der Inszenierung die schwierige Gratwanderung zwischen Komik, Horror, Tragik, Illusion und Selbsterkenntnis eindrucksvoll – davon hätte man sich mehr gewünscht an diesem Abend.