Foto: "Die sieben Todsünden/Seven Heavenly Sins" in Stuttgart © Bernhard Weis
Text:Petra Mostbacher-Dix, am 3. Februar 2019
Er ist das Symbol für den Kampf: der Boxring. Majestätisch reckt er sich in der Mitte der Schauspielbühne in die Höhe, langsam, mit hochfahrendem Licht, die Kombattanten offenbarend, die in den Ecken liegen, langsam ihre Köpfe erheben. Beide – Schauspielerin Josephine Köhler sowie Choreograph und Tänzer Louis Stiens – tragen seitliche Undercuts. Just wie Peaches. Die kanadische Electroclash-Sängerin hat ihre beiden Alter Egos ruhig beobachtet, lehnt nun lässig am Ring und erhebt die Stimme. Singt von sich und ihrer Schwester Anna, dabei sind sie ein und dieselbe Person. Erzählt von ihrer Glücksuche in den großen Städten, zu der sie vor vier Wochen in Louisiana aufbrach, wo „die Wasser des Mississippi unter dem Mond fließen“. Von den Eltern und beiden Brüdern, die in der Heimat mit dem Geld, das sie schickt, ein Haus bauen.
Willkommen zu Bertolt Brechts „Die sieben Todsünden“, dem Ballett mit Gesang samt Prolog und Epilog, zu dem Kurt Weill die Musik komponierte und – weiland 1933 zur Uraufführung in Paris – Georges Balanchine die Choreographie beisteuerte. Nun feierte das als Satire konzipierte Stück im Schauspielhaus der Württembergischen Staatstheater Premiere. Im Sinne des Wortes: Das Publikum feierte Darstellende und Inszenierung nach pausenlosen, intensiven eineinhalb Stunden frenetisch. Die Erwartungen waren groß: Nach 23 Jahren ist dies wieder eine Neuproduktion, an der alle drei künstlerischen Sparten der Staatstheater Stuttgart, Oper, Schauspiel, Ballett, beteiligt sind.
Doch um Erwartungen schert sich Peaches, die 1966 als Merrill Beth Nisker geboren wurde und sich nach einer archetypischen afrikanischen Frauenfigur eines Nina Simone Songs nennt, nie. Wer ihre Songs kennt, in denen Punk, Rock und New Wave eine beatstarke Melange eingehen zu Texten, die in Sachen Sex, dessen diversen Praktiken und Konstellationen nicht deutlicher sein könnten, der weiß auch, dass kein Kaffeekränzchen zu erwarten ist.
Regisseurin Anna-Sophie Mahler nutzt dies. Stand sie doch vor einigen Herausforderungen: Die Brecht-Weill-Vorlage dauert nur 35 Minuten. Den Texten, so Mahler, merke man die Vergangenheit an. Um sie in die Gegenwart zu katapultieren, setzte sie daher den klassischen sieben Todsünden in der zweiten Hälfte die „Seven Heavenly Sins“ entgegen. Will heißen, im ersten Part boxen sich deutsch-englisch – die Texte werden projiziert – die drei Annas (Köhler, Stiens und Peaches) im Ring und am Sandsack davor bis zur Erschöpfung von Louisiana etwa durch Memphis, Los Angeles und San Francisco. Dort begegnen sie Zorn, Stolz, Habgier, Faulheit, Völlerei, Unzucht, Neid, eingerahmt vom grandios spielenden Staatsorchester wie von einem sensationsheischenden Publikum. Zudem angefeuert und kommentiert von Annas Familie, die als Männerquartett am Bühnenrand in Ringrichterkleidung sitzt, in wunderbar zurückhaltender Dramatik gesungen von Gergely Németi, Florian Spiess von der Staatsoper sowie Christopher Sokolowski und Elliott Carlton Hines von dessen internationalem Opernstudio.
Part zwei wird dann zum Peaches-Special à la Rave-Club mit Punk und Lichtshow. Da mutieren die Todsünden zu himmlischen Lüsten, denen die Wahlberlinerin mit ihren Songs wie „Fuck the Pain Away“, „Dick in the Air“, „Vaginoplasty“ oder „Boys Wanna Be Her“ huldigt – in Kostümen aus Pelz, Schwänzen, überzähligen Brüsten oder halbnackt, mal auf einem Leuchtpodest, mal in einem aufgeblasenen transparenten Penis. Dazu schwingen Köhler und Stiens – der nicht nur die Choreographie dem Thema entsprechend besorgte, sondern auch wie ein junger Gott tanzte – mit Vaginamasken ihre Hintern erotisch, entführen mit Peaches in diverse Stellungen; gar Bariton Elliott Carlton Hines hat einen Twerking-Auftritt in schwarzem Höschen und roten High Heels.
Das kann man platt finden, monieren, dass es zu viele Brüche zwischen den Teilen gibt, Stringenz, Subtilität fehlen. Man kann es aber auch als typisch für die provokante Kanadierin sehen. Oder eben als Darstellung dieser disruptiven Zeiten, in denen es mehr Brüche als Kontinuitäten gibt, in denen zunehmend Plattitüden regieren. Und als Essenz von Satire, die durch extreme Zuspitzung den Spiegel vorhält. Denn keiner kommt ungeschoren davon bei Regisseurin Mahler, die zeigt, dass Brechts Kapitalismuskritik aktueller ist denn je.
Auch weil zwischen den beiden Hälften als Übergang Köhler mitreißend die King-Kong-Theorie der französischen Skandalautorin Virginie Despentes rezitiert. „Ich spreche für die hässlichen Frauen, die unzufriedenen, die schlechtgefickten, die selbstzweifelnden, die niemals perfekten“, um dann zu konstatieren, dass alles trügt, es die perfekte Frau nicht geben kann, so kulturelle Bilder von Geschlechterverhältnissen und Sexualität schonungslos bloßlegt.
Wie rät die Ringrichter-Familie noch ihren Annas, die quasi Verkäuferin ihrer selbst und Ware in einem sind? Schön still halten im System: mit „offener Missbilligung des Unrechts“ zurückhalten, die so sehr geahndet wird. „Immer sagte ich ihr: ‚Halte dich zurück, Anna, denn du weißt, wohin die Unbeherrschtheit führt’ … Wer über sich selber den Sieg erringt, Der erringt auch den Lohn.“ Selbstoptimierung über alles? Gut, dass Mahler all dem noch Charles Ives’ unter die Haut gehende Komposition „The Unanswered Question“ entgegensetzt, zu der Charaktertänzerin Melinda Witham, die ältere Anna, ins gleissende Licht entschwindet. Das Fragezeichen sollte immer am Ende stehen in diesen Zeiten.