Foto: Alceste vor dem Selbstopfer: Dorothea Röschmann, umgeben von dunklen Schatten in der Inszenierung von Sidi Larbi Cherkaoui © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper
Text:Roland H. Dippel, am 27. Mai 2019
Historische Bedeutung und geringe Präsenz auf den Bühnen klaffen bei einem Werk selten derart auseinander wie bei Christoph Willibalds Glucks „Alceste“ – egal ob die italienische (Wien 1767) oder die hier gewählte französische Fassung (1776). Szenische Lösungsansätze reichen von dem assoziativen Ästhetizismus Robert Wilsons (Paris 1986) bis hin zu entschlossener Aktualisierung wie 2010 in Leipzig. Dort fuhr Peter Konwitschny einen seiner wenigen Flops ein, weil er dem Pathos der Partitur nicht vertraute und sich deshalb mit Eingriffen in die musikalische Struktur und zusätzliche Dialoge zu retten versuchte.
Nach Rameaus „Les Indes Galantes“ ist die seit vielen Jahrzehnten erstmals wieder in München gespielte „Alceste“ Sidi Larbi Cherkaouis zweite Produktion für die Bayerische Staatsoper. Seine Annäherung hat andere Meriten als eine stimmige Personenregie, die mehrere Dimensionen des inneren Wegs der thessalischen Königin Alceste zum Selbstopfer für ihren todkranken Gatten Admète und ihre Rettung durch Hercule hätte aufreißen können. Die von Cherkaoui den Solisten an wichtigen Stellen gestattete Freiheit des szenischen Ausdrucks steht jedoch in Widerspruch zu Glucks musikalischer Strenge. Trotzdem leistet Cherkauoi mit seinem Team Essentielles, gerade weil er der Musik vertraut: Er ummäntelt die Herausforderungen dieser Oper mit ihren ausgedehnten sakralen Szenen nicht mit eskapistischen Notlösungen. Seine Ritualisierung hätte allerdings ohne die energetisch aufgeladene Leistung aus dem Orchestergraben beträchtlich an Spannung verlieren können.
Das Orchester der Komischen Oper Berlin wollte Antonello Manacorda nach seiner kongenialen Leitung der Serebrennikov-Inszenierung von „Der Barbier von Sevilla“ nicht als Chefdirigent. Jetzt macht der Italiener im Nationaltheater München mit stilistischer Souveränität und Intelligenz vergessen, dass „Alceste“ mindestens 243 Jahre alt ist. Manacorda verortet mit dem in Hochform spielenden Orchester der Bayerischen Staatsoper Gluck auf halber Strecke zwischen Rameau und Cherubini und zeigt in beglückender, so transparenter wie dramatischer Durchdringung des Werks, dass alle Vorbehalte gegen den Komponisten Gluck unbegründet sind. Diese Orchesterleistung setzt sogar noch dann Glanzlichter, wenn Cherkaoui, etwa am Eingang der Unterwelt mit wallenden schwarzen Tüchern, keineswegs zu einer der musikalischen Kraft angemessenen Bild- und Bewegungssprache für die auskomponierten Todesschauer findet.
Cherkaouis Energien bündeln sich dafür in der geradezu telepathischen Verschmelzung mit den Tänzerinnen und Tänzern seiner Compagnie Eastman. Bewundernswert gerät zum Beispiel die gefühlt über Minuten dauernde Sequenz, in der Admète über Tänzerarme gleitet und schwebt. In solchen Momenten legitimiert Cherkaoui seine sich stilistisch bis zu weich fließenden Rap-Figuren öffnenden Choreografie durch Glucks musikalische Architektur. Auf sein charakterstarkes Tanzensemble kann er sich dabei vollauf verlassen, auch auf die, wie nebenbei, gesangssolistisch tätigen „Coryphées“ Anna El-Khashem, Caspar Singh, Noa Beinart und Frederic Jost. In etwas schwerfälliger Bodenhaftung belässt Cherkaoui allerdings den von Sören Eckhoff auf klaren und deklamationsbezogenen Gestus präparierten Chor der Bayerischen Staatsoper. Für die homogene Durchmischung der Kollektive blieb offenbar nicht viel Probenzeit.
Das visuelle Ambiente war dem Produktionsteam deutlich wichtiger als die Darstellung der Rettung Alcestes vor dem Selbstopfer für ihren kranken Gatten Admète. Henrik Ahr setzte um die Spielfläche und deren variable Stufen begrenzende Kulissen wie in Bühnenformen des 18. Jahrhunderts. Alle Wände sind gleichmäßig bekleckst mit Punkten – von Götterbildern oder -abbildern keine Spur. Das wirkt wie die Utopie einer Gesellschaft mit einer dualistischen Religion ohne hebräische, christliche, islamische Abspaltungen und dem fast vollzogenem Wandel in die Androgynie. Jan-Jan Van Essches Kostüme umhüllen Körper mit Assoziationen an nomadische Kulturen des Zweistromlandes und heben geschlechtliche Differenzierungen weitgehend auf. Alles ist im Fluss wie Cherkaouis Choreografie: Folgerichtig gibt es Doppelbesetzungen für die Repräsentanten göttlicher Gebote (Orakel/Gott der Unterwelt: Callum Thorpe) und ritueller respektive körperlicher Energie (Oberpriester/Hercule: Michael Nagy).
Michael Nagy und Charles Castronovo als Admète assoziiert man eigentlich nicht mit Vokalrepertoire des mittleren 18. Jahrhunderts. Beide erweisen sich dennoch als markante und stilistisch affine Besetzungen. Licht und Schatten dagegen bei der Titelpartie: Naheliegend war die Besetzung mit einer noch lyrischen und dabei fülligen Stimme. Dorothea Röschmann verfügt genau über diese Qualitäten, leistete in der Premiere aber völlig unnötig mit künstlich abgedunkelten und vergrößerten Tönen Widerstand gegen die Energien aus dem Orchestergraben. Ausgerechnet bei der Titelfigur fanden vokaler, szenisch-choreographischer und musikalischer Gestaltungswille nicht zusammen.