Foto: Bizets "Carmen" am Luzerner Theater. Carlo Jung-Heyk Cho, Carolyn Dobbin © Ingo Höhn
Text:Detlef Brandenburg, am 24. Februar 2014
Ein bisschen konsterniert blickte der noch recht junge und ziemlich eigenwillige Opernregisseur Tobias Kratzer am Ende ja doch ins applaudierende Publikum. Ob er die Buhrufe vermisst hat? Jedenfalls hätte man mit solchen rechnen können, nachdem er am Theater Luzern Georges Bizets „Carmen“ nach allen Regeln der „Regietheater“-Kunst auseinandergenommen hatte. Doch nichts davon hier: einhellige Zustimmung für Kratzer und seinen Ausstatter Rainer Sellmaier, Bravos für die Sänger und den Dirigenten Howard Arman. Letzteres war mindestens ebenso erstaunlich.
Kratzer erzählt die Geschichte konsequent vom Ende her – das heißt: Schon zu Anfang sehen wir eine Carmen, die sich von ihrem Brigadier Don José abgewandt hat und mit dem Torero Escamillo (sein Kostüm hängt unter Klarsichtfolie an der Garderobe) ein Hotelzimmer von etwas altmodischer, aber durchaus heutiger Noblesse teilt, mit einem Flachbildschirm für Live-Übertragungen aus der Arena und einem mächtigen Stierkopf an der Wand als einschlägiger Reminiszenz. Während aber der Stierkämpfer und seine Freundin sich nicht minder einschlägig miteinander beschäftigen, schleicht sich ein heruntergekommener Desperado ins Gemach: krumme Knie, gebeugter Rücken, rollende Augen, wildes Grimassieren – der Mann ist ein Loser. Daran aber leidet er über die Maßen, und das macht ihn gefährlich. Kaum ist Escamillo dorthin verschwunden, wo er laut Libretto eigentlich den ganzen 1. Akt lang hingehört: ins Off – da fällt der Grimassierer über Carmen her, fesselt sie mit Kabelbinder an eine der Stangen, die etwas unmotiviert die Hotelsuite verunstalten, und macht Anstalten, sich an der untreuen Geliebten blutig zu rächen. Die Handlung wird fortan immer wieder hin- und herspringen zwischen dieser Gegenwart, in der Carmen die Geisel ihres Verflossenen ist, und Flachbacks in unwirklichem Licht, die erzählen, wie es dazu kam.
Geht das wirklich mit dem (erheblich geänderten) Libretto und der Musik zusammen? Nun ja, halb und halb – und dieses Halbgare und nicht der mutige Zugriff als solcher ist das wirkliche Manko von Kratzers Inszenierung. Sie ist kraftvoll in der Personenführung und schafft Konstellationen von enormer Spannung. Vor allem der Schluss ist stark: Von den Soldaten beinahe vergewaltigt, von Escamillo als eine von vielen Gespielinnen ausgehalten, von dem einzigen sie wirklich liebenden Mann als Geisel gequält, bleibt Carmen als letzter verzweifelter Akt der Selbstbehauptung nur der Selbstmord, den sie vollzieht, nachdem José schon längst resigniert hat.
Aber diese Meta-Erzählung kann Kratzer nur durch etliche Verlegenheitslösungen behaupten. Oft wirken seine Umdeutungen von Situationen und Handlungssegmenten krampfig. Die dramaturgische Funktion der Choristen (unter ihnen auch Frasquita, Mercédès, La Dancaïre, Moralès und all die anderen), die zeitweise rechts und links am Portal sitzend wie Zuschauer agieren, sich teils aber auch auf der Bühne ins Geschehen mischen, bleibt verschwommen. Das übermotivierte Chargieren, mit dem der Don-José-Sänger Carlo Jung-Heyk Cho die rasende Verzweiflung seiner Figur zu beglaubigen sucht, wirkt stummfilmhaft überzogen – Absicht oder Unbeholfenheit? Und wofür steht eigentlich diese Carmen? Wo ist die soziale und historische Verortung der Gesellschaft, die Menschen wie sie, José, Escamillo oder Moralès hervorbringt? Das bleibt unklar.
Unklarheit allerdings ist nicht eben das, was man dem Dirigenten Howard Arman nachsagen kann. Im Gegenteil: Die zackig knallende Direktheit, mit der er ans Werk geht, hämmert einem jedes Detail von Bizets Partitur auf die Ohren – und bleibt ihr jedes Flair schuldig. Nichts von der federnden Eleganz, dem Esprit der Opéra Comique. Die Lautstärke führt zudem in den Ensembles zu einem veritablen Wettbrüllen der Sänger, die sonst eigentlich so schlecht nicht sind. Vor allem der bereits erwähnte Carlo Jung-Heyk Cho füllt die José-Partie mit seinem weichen, im Forte kraftvoll auftrumpfenden Tenor zumindest vokal gut aus. Carolyn Dobbins Mezzo ist für die Carmen zwar zu weich und lyrisch, aber sie führt ihn einfühlsam. Während die an sich rollendeckende Leistung von Jutta Maria Böhnert als Micaëla und William Berger als Escamillo durch unmotivierte Kraftakte immer wieder beeinträchtigt wird. So war’s ein nicht uninteressantes, teils spannendes, alles in allem aber etwas unausgegorenes Rendezvous mit Bizets „Carmen“.