Foto: Choreographie des Abschieds: das "Weltwärts"-Ensemble. © David Baltzer
Text:Manfred Jahnke, am 1. März 2020
Anna leidet unter einer schweren Motoneuron-Erkrankung. Auch, wenn sie gerade eine starke Phase hat, in der die Krankheit sich ruhig verhält, beschäftigt sie sich damit und ist fest entschlossen, über ihren Tod selbst zu bestimmen. Dorothy, ihre Mutter, steht ihr ebenso bei diesem Vorhaben bei, wie Rose, ihre siebenjährige Tochter, oder Onkel Buddy, Zahnarzt und Schauspieler. Wenn das Licht auf der Bühne zu „Weltwärts“ von Noah Haidle angeht, dann sieht man einen grünen Rasen, auf dem ein langer Campingtisch und acht verschiedene Stühle stehen. Irritierend ist allerdings die rückwärtige Wand, in die ein großer Kreis eingeschnitten ist und auf die bunte Kinderzeichnungen von Kopffüßlern projiziert sind (Bühne: Florian Etti). Rose kommt, setzt sich an den Tisch und schreibt. Dann kommt Anna und Rose macht ihr Vorschläge, wie das letzte Wort ihrer Mutter lauten könnte.
Wenn alle Gäste eingetroffen sind, dann beginnt ein Spiel im Modus der Echtzeit, 90 Minuten, um die Choreographie des Abschieds zu zelebrieren. Alle in der Familie wissen Bescheid, außer der sechs Minuten jüngeren Zwillingsschwester Baby, die weit weg von Grand Rapids, Michigan ein eigenes Leben führt. Sie fällt aus allen Wolken, als sie erfährt, zu was für einem Fest sie geladen ist. Sie muss erfahren, dass ihre Mutter, die als Hebamme bei über 10.000 Geburten geholfen hat, nun auch Suizidbegleitung in mittlerweile 35 Fällen als „Transmigrationszeremonie“ durchgeführt hat, also den Übergang einer Seele vom Dies- in das Jenseits begleitet. Onkel Buddy besorgt als Zahnarzt die Tabletten. Kein Zweifel, Noah Haidle greift in seinem Stück ein brennendes Thema auf, das durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen eines selbstbestimmten Todes zusätzliche Aktualität erhalten hat. Dramaturgisch ist das Spiel mit der Echtzeit und geschickt angelegt mit dem Kniff, vor einer ahnungslosen Person die ganze Vorgeschichte zu enthüllen. Auch werden in den Dialogen die verschiedenen Haltungen und Widersprüche vom Autoren deutlich ausgestellt. Leider aber neigt er in der Figurenzeichnung zu Übertreibungen, die zwar dem Stück komische Züge geben, aber die Handlung nicht wirklich vorantreiben.
Von diesen Überzeichnungen sind die Hauptfiguren meist ausgenommen. Therese Dörr stellt ihre Anna als eine selbstbewusste junge Frau vor, die sich entschieden hat, nicht dahinsiechen zu wollen, und doch zugleich von einer Lebenslust beseelt ist, die Schönheit des Augenblicks genießen möchte, immer im Hinterkopf: die Verantwortung gegenüber ihrer Familie. Manchmal auch blitzt eine Sehnsucht auf, die sich nicht nur bei Anna, sondern bei allen Figuren zeigt: die Sehnsucht nach Liebe. Und da nach Haidles Definition von Liebe „Loslassen können“ bedeutet, fordert Anna diese Fähigkeit geradezu ein. Ihre Schwester Baby, bzw. Gertrude, von Lydia Kirchleitner (Kostüme) als Sexbombe mit riesigen Löchern in den Strümpfen eingekleidet, ist gerade nach einer Überdosis Heroin dem Tod von der Schippe gesprungen. Josephine Köhler spielt diese Rolle als aufmüpfige Göre, die sich von Saulus zu Paulus wandelt. Anke Schubert führt mit leisem Humor die Dorothy vor, die denn doch plötzlich Skrupel bekommt und die kleinen Widersprüche ihrer Rolle feinsinnig auslotet. Und da ist die Rose, die zu früh Verantwortung übernommen hat und daher altklug erscheint. Onkel Buddy, in Krischna-Kostüm, wird ständig gestört bei der Rezitation des „Bhagavad Gita“. Elmar Roloff spielt diese Figur großartig aus. In abrupten Wechseln führt er den besorgten Zahnarzt vor, dann wieder den begeisterten Laienschauspieler, zeigt aber auch jene dämonischen Züge, die hinter der Oberfläche des netten alten Mannes sich auftun. Eine Bombenrolle für Elmar Roloff.
Wenn die Hauptrollen trotz kleiner Zweifel von Anfang an so fest auf ihre schon vor Stückbeginn getroffenen Entscheidungen pochen, sodass diese unumkehrbar sind, bleibt der Spannungsbogen naturgemäß gering. Es müssen zusätzliche Anreize geschaffen werden. Der Autor versucht mit drei weiteren Figuren die Dramaturgie voranzutreiben. Da ist zum einen der Nachbar Kevin, der Kontaktverbot zu der Anna-Family hat und der, weil er nicht zur Party eingeladen ist, schließlich die Polizei holt. Klaus Rodewald spielt den Kevin zunächst aus der ersten Reihe des Zuschauerraums, greift ein, wird der Bühne verwiesen, rockt mal zwischendurch, wird dann vom Officer Owen zusammengeschlagen, kann sich befreien und hat in fünf Minuten die Liebe entdeckt und darf nun am Fest teilnehmen. Diesen Owen spielt Peer Oscar Musinowski als forschen Polizisten, den das Fest an die letzten Wochen der eigenen Mutter erinnert und der deshalb nicht eingreift, stattdessen auf Kevin losgeht. Er darf auch an der Party teilnehmen. Louis schließlich, dem am Krebs erkrankten Musiker, der mit Anna seine „schlechteste Schülerin“ unterrichtet, ist in sie verliebt. Über das Spiel von Gábor Biedermann schwebt eine melancholisch-sentimentalische Stimmung des Zu-Spät-Gekommenen. Nur als Pointe nebenbei: Alle Figuren, die auf der Bühne agieren, mit Ausnahme von Onkel Buddy, hat Dorothy als Hebamme mit auf die Welt gebracht.
Die Personenführung, das Herauskitzeln feiner psychologischer Erzählstränge ist eine Stärke der Regie von Burkhard C. Kosminski. Er lässt sich ernsthaft auf den Text ein. Er erzählt dabei alle Handlungsstränge aus, auch da, wo Kürzungen gutgetan hätten. Auch er muss gespürt haben, wie schwer sich in diesem Stück Spannung herstellen lässt. Das lässt sich daran erkennen, dass er viele Aktionen eingebaut hat, wie beispielsweise bei der ersten Wiedersehensszene der Schwestern diese eine herabgefahrene Leinwand mit Farbeiern bewerfen, dazu aus einem Gewehr Schüsse knallen. Überhaupt spielt die szenische Gestaltung eine wichtige Rolle, da dreht sich ständig der Bühnenboden, wechseln die Projektionen von den Kinderzeichnungen über eher abstrakte Bilder hin zu solchen, die expressionistisch beeinflusst sind, immer leicht unscharf (Videoprojektionen: Sebastian Pircher).
Nachdem die Zeremonie für Anna – Gedicht von Rose, Bekenntnisse der Anna, Song der Baby: „Save me“ von den „Queen“, das „Ja“ der Anna und schließlich das Wunder des Geigenspiels – abgeschlossen ist, wird es mythologisch: Dorothy verteilt Wecker, die die abgelaufene Zeit festhalten. Am Ende dann stellt jede der Rollen (außer Anna natürlich, die schon tot ist) ihre Biographie vor, dazu sind auf der Leinwand, deren Rahmen auf den Bühnenboden herabgelassen wurde, und deren Kreis halb schräg über die Spielfläche ragt, Kinderfotos zu sehen. Aber eigentlich geht es bei all diesen Biographien nur darum, das Voranschreiten der Zeit zu verdeutlichen, vor allen Dingen in Richtung der Veränderung der gesellschaftlichen und der politischen Haltung gegenüber der Sterbehilfe.