Foto: Szene aus "Das große Heft" am Staatstheater Braunschweig © Björn Hickmann
Text:Andreas Berger, am 15. Mai 2022
Und über allem schwebt ständig die Frage, warum tun Menschen sich das an? Warum versucht die Großmutter, den zu ihr in Sicherheit gebrachten Zwillingen, ihren Enkelsöhnen, nicht wenigstens etwas Wärme zu geben? Das kostet doch nicht mehr, selbst wenn sie die Kinder in diesen Kriegszeiten auch zur Arbeit zwingen muss. Es ist schon vieles zerrüttet in diesem Dorf, wo nur noch Gewalt, Missbrauch´und Berechnung die Beziehungen der Menschen regieren. Die Kinder finden einen grausamen Weg, in diesem Universum ohne verbindende Werte durchzuhalten: Sie härten sich ab. Durch Übungen, in denen sie sich selbst Grausamkeiten körperlicher wie psychischer Art zufügen. Alle Emotion muss draußen bleiben. Vielleicht sparen sie sie auf für eine ersehnte Zeit danach. Sie tragen ihre Erlebnisse ein in „Das große Heft“ – auch hier wieder: ohne Emotion, nur die Fakten. Gefühle sind unsichere Wörter, haben sie gelernt.
Ágota Kristófs gleichnamiger Roman spielt in einer nicht näher bestimmten Zeit. Er kommt uns heute vor, als müsste er genau von den Binnenflüchtlingen in der Ukraine handeln. Von Kindern, deren funktionierendes System aus Liebe, Behütung, Sicherheit plötzlich kaputtgebombt wird und die zu ihnen fremden Verwandten in anderen Landesteilen gebracht werden, während die Eltern am Kriegsort weiterkämpfen. Werden sie je wieder unbeschwert leben können? Vielleicht ist ihre Kindheit schon jetzt vorbei. „Wir spielen nie“, heißt es im Heft der zwei. Aber man ist versucht, ihre Selbstabhärtungsübungen als eine verzweifelte letzte Form von Spiel aufzufassen, durch die sie sich von der harten Wirklichkeit distanzieren und vormachen können, es gebe irgendwo das alte, liebevolle Leben noch, sobald das schreckliche Spiel vorbei ist.
Konzentrierte Versuchsanordnung
Der Komponist Sidney Corbett gibt den Jungs in seiner 2013 uraufgeführten Opernfassung denn auch eine nüchterne, oft archaisch unisono und wie im gregorianischen Choral schlicht und verzierungslos geführte Gesangslinie, als bewegten sie sich emotionslos durch die Szenen. Sie wirken dadurch zugleich etwas engelshaft entrückt, als könnte alles Grauen ihre Seelen nicht mehr erreichen. Milda Tubelyte mit ihrem vibratolos leuchtendem Mezzo und Alina Wunderlin mit einem sehr klaren, teils mühelos in die Höhe entweichenden Sopran ergänzen sich in der Neuinszenierung am Staatstheater Braunschweig wunderbar.
Isabel Ostermann inszeniert das Stück im Großen Haus wie eine Versuchsanordnung auf der Probebühne, moderiert von der im Libretto vorgesehenen Erzählerin (Krista Birkner). Stephan von Wedels Bühnenbild besteht aus der leeren schwarzen Drehbühne, auf der ein Tisch und wenige Stühle die einzigen Requisiten bleiben.
Julia Burkhardts Kostüme folgen einem schwarzen Einheitslook, der mit wenigen Variationen dann doch prägnant die Figuren charakterisiert. So verwandelt sich der zugeknöpfte Pfarrer durch das langsam weit bis auf die freie Brust aufgeknöpfte Hemd und die aufgekrempelten Ärmel zu der erotisch schillernden Figur des Offiziers, der die körperlichen Exerzitien der Jungs für seine eigenen masochistischen Gelüste nutzt. Die Doppelrolle hat insofern Konsequenz, denn der Pfarrer missbraucht das Nachbarsmädchen Hasenscharte.
Ostermann lässt aber all diese Szenen von Gewalt und Missbrauch nicht nachspielen, sondern schafft dafür kühle, distanzierte Bilder, die trotzdem merkwürdig berühren, denn der Text der Handlung ist ja da. So wird der Pfarrer etwa nur im Gegenlicht mit Hasenscharte auf dem Schoß gezeigt. Und die Jungs halten einfach nur den als Peitsche dienenden Gürtel in der Hand, während der Offizier vor ihnen liegt und die scheinbaren Schläge empfängt. Wenn die Magd die Jungs beim Baden missbraucht, zieht sie ihnen nur ihre Schuhe aus und streichelt sich selbst. Das ist unheimlich suggestiv gemacht und entspricht sowohl den sachlichen Eintragungen des Großen Hefts als auch der ebenfalls zurückgenommenen Musik.
Musikalische Charakterisierung
Sidney Corbett verzichtet auf Pathos, ja statt eines linearen Melos gibt es bei ihm eher rhythmisch sich voranwerfende Klangschübe, oft akzentuiert von hartem Streicherzupfen, allerlei Perkussionseffekten wie Schlegelstielen auf dem Trommelrand, Kuhglocken, Klingeln, sogar einer Hupe. Auch wenn der Streicherklang dazwischen wieder warm werden kann, sich Holzbläser einmischen, entsteht daraus kein emotionaler Sog, sondern es bleibt ein Aufleuchten, von dem man sich Schub für Schub zum nächsten hangelt. Mino Marani hält dieses langsame Vorandrehen mit dem Staatsorchester virulent, und doch nutzt sich das Muster, auch die kühle Gregorianik der Jungs auf Dauer etwas ab. Plötzlich würde man sich mal einen emotionalen Schrei wünschen.
Dabei charakterisiert Corbett die Figuren erkennbar. Das harmonium-ähnliche Akkordeon begleitet zuweilen den Pfarrer– Maximilian Krummen singt ihn mit volltönendem Bassbariton, den er als Offizier noch dramatisch weitet, als müsse er um so lauter singen, je mehr er sich demütigen lässt. Den brutal-übergriffigen Polizisten gibt Fabian Christen mit passend grellem Tenor, den Trompetenstöße noch überzeichnen. Währenddessen wird die harte Großmutter von Mezzo Marlene Lichtenberg mit einer sachlich sprecherischen Stimmführung gekennzeichnet. Dagegen darf Isabel Stüber Malagamba ihren Mezzo als Magd erotisch glühen lassen. Ein Kinderchor umringt die kämpfenden Jungs mit “härter”-Rufen im Staccato.
Aber noch sind gute Gefühle in diesem so sachlich-egoistischen Universum nicht erloschen, das nimmt man erstaunt zur Kenntnis. Das Mädchen Hasenscharte geht anschaffen, um ihre Mutter durchzubringen: Jelena Bankovic spielt es als verängstigt zuckendes Reh, das unter seinen tierischen Gurrlauten einen weichen Sopran aufklingen lässt. Der Schuster schenkt den Jungs Stiefel, von der Klarinette begleitet singt ihn Rainer Mesecke mit fülligem Bass. Und die Jungs sagen Danke, wie sie es in den guten Zeiten zu Hause getan hätten. Sie helfen Hasenscharte, aber sie jagen auch die Magd in die Luft, die die Deportierten verspottet. Sie haben ihr eigenes Wertesystem entwickelt. Sie werden durchkommen. Wie die Nachkriegswelt mit ihnen aussehen wird, man kann nur hoffen. Und schon ist man mit den Gedanken wieder in der Ukraine.
Ostermann erkennt in der Handlung auch eine Art Passionsspiel, lässt die Sprecherin zuweilen wie den Gekreuzigten am Horizont stehen. Das Opfer der Jungs ist groß, ob es Gnade über die Welt bringt, wird sich erweisen. Dieses „Große Heft“ ist auch als Musiktheater eine harte Lektüre, bei der man am liebsten immer wieder eingreifen möchte. Tun wir’s – in der Wirklichkeit.