Foto: Theater in 360°-Perspektive, hier: Manolo Bertling, Vanessa Loibl, Sarah Franke, Emma Rönnebeck und Johanna Bantzer. © Thomas Aurin
Text:Michael Laages, am 20. Februar 2021
Der zentrale Gedanke leuchtet umstandslos ein – genau wie Thebens junger König Ödipus im Kampf gegen eine lebensbedrohende Seuche entdecken muss, dass die Götter ausgerechnet seinetwegen den Fluch über die Stadt verhängt haben, so stellt auch der Mensch, Anthropos, im nach ihm benannten Zeitalter des Anthropozäns mit wachsendem Erschrecken fest, dass er selbst die Bedingungen geschaffen und entwickelt hat, die die eigene sogenannte „Zivilisation“ in den Untergang führen werden. Ödipus hat – ohne dass er das wissen konnte – den eigenen Vater erschlagen und lebt deshalb in der Ehe mit der eigenen Mutter; der Mensch hat den technischen Fortschritt an den „point of no return“ getrieben in der Zerstörung speziell der Natur, dorthin also, wo es keine Rückkehr mehr gibt ins Gleichgewicht. Das ist schnell verstanden – und wer den antiken Mythos um Ödipus und in der Folge dessen Tochter Antigone, von Sophokles und anderen (etwa Martin Crimp) bis in die Gegenwart hinüber bearbeitet, ohnehin als Parabel und nicht nur als Familientragödie in mehreren Folgen begreift, nimmt den königlichen Untergeher eh als Beispiel für unseresgleichen.
So viel und in aller Kürze zu Sinn und Zweck der Beschäftigung mit Antike und Mythos – und zum technisch spektakulären 360-Grad-Rundumtheater im Netzprojekt vom Team um Alexander Eisenach an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz; es lohnt die Mühe immer (und auch diesmal wieder), so zu erzählen von Mythos, Gegenwart und Nicht-mehr-sehr-viel-Zukunft.
Denn das markiert ja die Differenz zum antiken Stoff – Ödipus, unschuldig schuldig geworden, blendet sich selber und verdämmert auf einer Insel im Exil; den kriegerischen Konflikt der Söhne Polyneikes und Eteokles muss er nicht mehr mit ansehen (das sowieso nicht), auch nicht den letztlich tödlichen Streit von Antigone und deren Schwester Ismene mit dem herrscherlichen Nachfolger (und Onkel) Kreon um Menschenrecht, Macht und Moral. So aber geht es uns, so geht es Anthropos eben nicht – ihn und uns lässt das Schicksal noch lange nicht heraustreten aus der Wirkmacht des Fluchs, der über ihn und uns verhängt ist: von uns selbst. Selber schuld sind wir, und wissen es.
Vielleicht liegt es ja daran, dass die Aktualisierung auch im Berliner Projekt (wie im Greta-Thunberg-Aktivismus generell) so ermüdend schlaumeierisch daher kommt – Eisenach führt die eloquente Wissenschaftlerin Antje Boëtius vom Alfred-Wegener-Institut gegen Ende als Wiedergängerin des blinden Sehers Teiresias ein, um – jetzt sehend und als Wahr-Sagerin im Wortsinne! – den immerzu und ewig Blinden die Zukunft zu beschreiben; getrieben vom Furor der Hoffnung, es sei noch irgendetwas zu retten. Auch die kriegerisch gerüstete Antigone geifert voller Zuversicht gegen den selbstgerechten Herrscher Kreon – der sich auf den vertrauten „Weiter so!“-Standpunkt stützt; darauf, dass die Vision vom ungehemmt wachsenden Wohlstand das Erfolgsmodell bleiben werde.
Wer es wissen will, weiß natürlich seit der Studie des „Club of Rome“ vor demnächst 50 Jahren, dass das so wohl nicht sein wird. Und auch der Mythos sieht die Sache mit dem Weitermachen eher nicht so positiv.
Der „Wir schaffen das!“-Furor der klugen Rechthaberinnen und Rechthaber reduziert Intelligenz und Energie der Berliner Aufführung beträchtlich; auch die Gleichsetzung der aktuellen pandemischen Schließung des Theaters mit dem Desinteresse von Ökonomie und Technologie am Menschen an sich wirkt ein bisschen albern aufgeplustert. Der Abend hat also beträchtliche Schwächen; in der Engführung der Anthropos-trifft-Ödipus-Strategie allerdings sind Inszenierung und Konzept erstaunlich sicher. Das wird auch in den Bildern deutlich – um die 360-Grad-Kamera im Mittelpunkt der Drehbühne herum kreist eine Art Industriewelt. Daniel Wollenzin hat Modelle von Ölförderpumpen und Fabrikschloten kombiniert; wie Säulenheilige steigen die Menschwesen herab in diese Szenerie. Die riesige Maske des geblendeten Ödipus wird über die Gänge des immer präsenten leeren Theaterraums herab getragen zur Bühne und bleibt der zweite Blickfang neben den Industrie-Schablonen, Lena Schmid und Pia Dederichs Kostüme stiften Assoziationen zwischen industriellem Blaumann (hier auch Orange- oder Grünmann) und antikem Outfit.
Mit Johanna Bantzer und Sarah Franke, Vanessa Loibl, Emma Rönnebeck und Sarah Maria Sander, Manolo Bertling und Sebastian Grünewald trägt das wirklich starke Ensemble die ständig changierenden Stimmungen der Fabel energisch mit; Frankes Exkurs über Hirnhälften und Hemisphären ist ein furioses Glanzstück. Zu hoffen ist, dass auch der nächste Intendant René Pollesch all diese Schauspielprofile schätzen wird.
„Mittendrin statt nur dabei!“ jubelt übrigens ein Teilnehmer im Netz- und Chat-Palaver zur Aufführung. Da irrt er – „mittendrin“ ist „richtiges“ Publikum auch, wenn es nur in Reihen davor oder drum herum sitzt. In der Tat aber müsste die Aufführung für den Normalbetrieb stark modifiziert werden. Aber so wird es sein – denn ein starkes Stück braucht starkes Publikum. Im Netz sind wir nur fade, fahle Geister.
„Anthropos, Tyrann (Ödipus)“ ist entstanden in Kooperation mit dem Theater des Anthropozän, gegründet von Frank Raddatz und Antje Boëtius in Berlin (Anm. d. Red.).