Foto: "Hamlet" am Residenztheater © Birgit Hupfeld
Text:Anne Fritsch, am 14. Mai 2021
193 Tage. So lange ist es her, dass die letzte Live-Premiere im Residenztheater stattgefunden hat, „Dantons Tod“ in der Regie von Sebastian Baumgarten. Es war überhaupt der letzte Theaterbesuch bis heute, über ein halbes Jahr später. Also wieder Premiere im Residenztheater, kein Abschied diesmal, sondern ein aufgeregter Neuanfang. Mit negativen Corona-Tests, Abstand und FFP2-Masken zwar. Und doch: endlich mal wieder richtiges Theater. Mit anderen im Zuschauerraum statt allein auf dem Sofa. Mit echten Menschen, ohne Bildschirm. Sogar mit Pause, wenn auch draußen im Kühlen und ohne Getränke. Denn dieser Neuanfang ist kein kleiner: Robert Borgmann inszeniert Shakespeares „Hamlet“ drei Stunden plus Pause lang. Auf der Bühne scheint Corona kein Thema. Da geht es opulent zu, es wird gerangelt, getanzt und geküsst.
Borgmann beginnt seinen Abend wabernd und neblig: Hinter einem weißen Gaze-Vorhang erahnt man mehr umherirrende Gestalten, als dass man sie sieht. Dann taucht ein fast comichaft überzeichneter Hofstaat mit barock angehauchten, raumgreifenden weißen Kostümen auf. Gertrud (Sibylle Canonica) und Claudio (Christoph Franken) könnten auch einer bizarren Zirkusnummer entsprungen sein. Einzig Hamlet (Johannes Nußbaum) sieht in seiner grünen Cordhose einigermaßen normal aus – und ist in dieser Gesellschaft eindeutig fehl am Platz. Der Raum aus weißen Vorhängen, den der Regisseur selbst entworfen hat, deutet schon die Grundrichtung der Inszenierung an: Hier ist alles Theater, ein Spiel mit Realitäten und Wahrheiten. Jeder gibt vor, jemand zu sein. Kaum einer ist wirklich. Einzig vielleicht der Geist des toten Vaters: ein hutzeliges altes Männlein, das, nur mit weißen Tennissocken bekleidet, mit einem Umzugskarton über die Bühne irrt. Nackt und heimatlos. Die stumme Vater-Sohn-Begegnung ist rührend, Hamlet streckt seinen Arm nach dem Vater aus, der ruft ihm im Abgang noch zu: „Gedenke mein!“
Damit bestärkt er Hamlet in seinem Misstrauen seiner Umgebung und vor allem seines Onkels gegenüber, der nun der Mann seiner Mutter ist. Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf. Hamlet schleift zunächst einen aufblasbaren Riesenelefanten auf die Bühne. Da steht er nun, der offenkundige Elefant im Raum, Hamlets erster Versuch, das Problem ins Blickfeld zu lenken: dass sein Onkel seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat. Doch alle spielen nur fröhlich damit, veranstalten ein heiteres Elefanten-Stage-Diving bis hoch in den Rang. Borgmann findet leichte und beeindruckende Bilder für Hamlets Einsamkeit, für sein Nicht-Dazugehören, seine verzweifelten Versuche, den anderen die Wahrheit vor Augen zu führen. Er kann nicht vergessen, was geschehen ist. Hamlet lässt die Luft aus dem Elefanten, greift zu anderen Mitteln, dem Theaterspiel. Da werden die Schauspieler in Krankenbetten am Tropf hängend hineingefahren, um dann König-Vergiften im Park zu spielen.
Warum die Schauspieler halb tot darniederliegen? Sind das die Folgen des Lockdowns? Man weiß es nicht, man wird es nicht erfahren. Der zweite Teil dann findet zu keinerlei Stringenz mehr. Alles gerät gehörig aus den Fugen, nicht nur die Zeit. Borgmann verliert sich in einem Ausstattungstheater ohne Ziel und Sinn. Da wird getanzt, opernhaft gesungen, es gibt morbide Kunstprojektionen, Gummigeister aus der Kiste, LED-Skulpturen… Der Abend franst aus in eine mal klamaukige, mal kopflastige Nummernrevue. Von der Stringenz des ersten Teils bleibt nichts übrig, Borgmann versteigt sich in zu viele, unzusammenhängende Ideen. Was schade ist, denn Johannes Nußbaum gelingt es großartig, Hamlets Brüche sichtbar zu machen. Auch Linda Blümchen überzeugt als Ophelia, zeigt sie als eine facettenreiche junge Frau. Überhaupt hat man das Residenztheater-Ensemble selten so locker und verbindlich gesehen, so wenig distanziert.