"Falling Faces" mit Willer Rocha, Elias Bäckebjörg und Dario Wilmington

Sehnsucht und Berührungsangst

Damian Gmür / Odbayar Batsuuri: Changes: 45 / Falling Faces

Theater:Theater Pforzheim, Premiere:26.06.2020 (UA)

Was bedeuten Hygieneregeln in der Pandemie für Ballett-Aufführungen? Die beiden zeitgemäß unter dem Titel „Changes“ zusammengefassten Tanzwerke von Damian Gmür und Odbayar Batsuuri, die am Pforzheimer Stadttheater vor knapp hundert einzeln oder in kleinen Grüppchen platzierten Zuschauern als Pforzheimer Debüt in der Coronakrise Premiere hatten, zeigen eigenwillige Verwandlungen ursprünglich körpernah gedachter Tänze. Die Sehnsucht nach genregemäßen tänzerischen Berührungen steigert sich in spannungsgeladenen Momenten zu Formen elektrisierend dynamischer Bewegungsmeditation. Da versammeln sich auf der Bühne gleichsam Abstand haltende, verstörte Bhagwan-Jünger und weibliche Sannyasins als verstreute Erben des Erleuchteten zum kultischen Ritus.

Gmürs zweiteiliges Stück „45“, das auf die Zentimeter anspielt, die als Schutzzone des Menschen gelten – welche sich gegenwärtig auf anderthalb Meter ausgedehnt hat –, spiegelt ein- und denselben zwischenmenschlichen Vorgang in einer lichthellen und in einer schattendunklen Version: den der Vereinigung zweier Menschen, die sich als Sehnsuchtsziel schlussendlich doch wie eine Erlösung in beiden Durchgängen ereignet – das eine Mal in zögerlicher Zärtlichkeit, das andere Mal ängstlich mit gewaltsamer Wucht.

In der ersten Version sind die jeweils vier Protagonisten, zwei Frauen und zwei Männer, luftig indisch kostümiert, mit cremefarbenen, orangebraunen und dunkelbraunen Kleidern. Zu dem von Fabian Schulz komponierten Sound, der Friedrich Spees zartes Weihnachtslied „Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein“ elektronisch verfremdet und mit Unwetter-Geräuschen oder Motorenlärm mischt, windet sich anfangs eine Tänzerin auf einer schräg über die Bühne gelegten Lichtstraße. Mit segnend erhobenen Armen und Händen bilden die anderen drei Tänzer eine Gasse dazu. Später formen die Akteure, indem sie sich an den vier Eckpunkten postieren, ein flexibles Quadrat, das fast die gesamte Bühnenfläche einnimmt und ein auf die Tanzfläche projiziertes Schattenkreuz umrahmt. Öfters sind ihre Arme und Hände in Heilserwartung nach oben gestreckt und ihre Köpfe mit verklärten Gesichtern erhoben. Sie agieren taumelnd in sich versunken, pulsieren chaotisch, torkeln benommen im Wiegeschritt oder fallen in Trance zu Boden. Im zweiten Teil von Gmürs Choreographie gehen vier andere, nun nachtschwarz gekleidete Tänzer auf dunkler Bühne in gezackten Bewegungsabläufen mit militärischer Härte vor. Zu Stampf-Rhythmen schütteln sich chaplinesk ihre Körper, am Boden werden verkrampfte Kriechgänge absolviert. Die Vereinigung eines Paares ist auch weniger liebevoll als in der ersten Sequenz: Das Mädchen presst sich auf den bäuchlings liegenden Partner.

Batsuuris szenisch angelegtes Tanzstück „Falling Faces“, gleichzeitig seine Abschlussarbeit im Masterstudium an der Palucca-Hochschule in Dresden, zeichnet sich durch eine von eckigen Verrenkungen und abenteuerlich verzerrten Körperschrauben geprägte Bewegungssprache aus. Die mit je drei Frauen und Männern besetzte Tanzgruppe bietet in blumenbunten Hemden und flattrig weißen Hosen nicht etwa Flowerpower, sondern setzt sich programmatisch mit den modernen Methoden der Gesichtserkennung im videoüberwachten öffentlichen Raum auseinander, vor allem mit den Folgen dieser gefühlskalten Technologie für die Menschen. Im Zentrum maschinenhaft präziser Körperaktionen zu Ulf Langheinrichs Weltmusik-Sound steht auch hier die Paarung diesmal zweier männlicher Personen, die einen wilden Pas de deux absolvieren. (Vorsorglich verkündete die Theaterleitung dazu, dass alle Paare in häuslicher Gemeinschaft leben.)

Die auf flachen Sohlen sehr abstrakt vertanzten Choreographien bieten eine Fülle bizarrer Bewegungs-Erfindungen. Bei der Premiere hatten das reduzierte Publikum und das unerhört engagierte Ballettensemble ihre Freude daran.