Foto: Ensemble des Staatstheaters Karlsruhe in "Anna Iwanowa" © Thorsten Wulff
Text:Manfred Jahnke, am 30. Oktober 2022
Da hat einer eine steile Karriere gemacht. Alles ist gut gelaufen, aber dann gerät die Maschine ins Stocken. Die Pleite droht, die große Liebe schwindet. Was bleibt, ist Melancholie, die sich mit Schuldvorwürfen überhäuft und zu einer schmerzlichen Handlungsunfähigkeit führt. Am Ende bleibt die Flucht in den Tod, der die Umwelt nun in Selbstvorwürfen sich zermartern lässt. So könnte man die Handlung von „Iwanow“ auf den Punkt bringen, dem ersten Stück von Anton Tschechow, das aufgeführt wurde, 1887 als Komödie und dann in einer Überarbeitung 1889 als Drama.
Was Tschechow in das Zentrum seiner Handlungen rückt, ist die Kraftlosigkeit einer Generation, die jammert, statt tätig zu werden, kurz: „überflüssige Menschen“. Langeweile und Überdruss an den Gewohnheiten des Provinzlebens führen trotz reflektierter (Eigen-)Analyse dazu, sich schuldig zu fühlen. Bei „Iwanow“ kommt hinzu, dass der Schuldkomplex noch erhöht wird, weil die Partnerin Anna, die alles für ihren Mann aufgegeben hat, mit einer schweren „Lungenfibrose“ im Sterben liegt. Aber Iwanow schafft es nicht, sich um seine sterbende Frau zu kümmern. Da es für ihn keinen Ausweg mehr gibt, erschießt er sich am Ende.
Anna Bergmann erzählt nun in ihrer Inszenierung am Staatstheater Karlsruhe die Geschichte des Iwanow aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich aus der von Anna. Es ist hier Anna, die sich der Melancholie ergibt. Sie ist also die Schafferin, die in ihrem Leben einen Knick bekommt, melancholisch wird und einen kranken Mann zu versorgen hat. Was hat Iwanow nur in der Vergangenheit gemacht, war er ein totaler Versager? Man sollte nicht zu sehr in der Psychologie der Figuren bohren. Zumindest geht die Textübertragung von Iwanow auf Anna voll auf. Dennoch bleiben Irritationen, die Bergmann geschickt umgeht, in dem sie den von Volker Hintermaier geschaffenen Kunstraum voll ausnutzt.
Der Boden ist mit schwarz-glitzernder Kohle ausgelegt, an den Seiten sind Wände mit 7×9 runden Löchern, die teilweise für das Licht, einmal auch für einen Auftritt oder auch gar nicht benutzt werden. Ein umgestürztes Klavier beherrscht die rechte Hälfte der Bühne. Im Laufe der Inszenierung wird es benutzt, um darauf zu klimpern oder Songs von der großen vergeblichen Liebe zu singen. Nach oben wird der Raum durch eine Decke mit Leuchtröhren abgeschlossen, die herabgelassen die Szene eng macht. Bei den Traumbildern wird diese schräg gestellt. Und immer wieder quillt Nebel.
Verratene Geheimnisse
„Anna Iwanowa“ von Bergmann beginnt gar nicht mit dem „Iwanow“ des Tschechow, sondern mit einer Eigenerfindung, einer Rückblende auf die Hochzeit. Da bewegen sich fünf Bräute in traditionellen Trachten über die Bühne, reden Russisch (oder tun so als ob): Die glückliche Zeit wird beschworen.
In späteren Einblendungen träumt Anna von einem Amoklauf, bei dem sie alle niederschießen möchte. Da treten alle Mitwirkenden mit Tiermasken auf der Geburtstagsfeier von Sascha auf. Oder da küsst die Ärztin den Mann der Anna, oder Iwanow erhängt sich: Da wird denn doch zu viel der Geheimnisse offengelegt, die Tschechow eigentlich bewahren wollte.
Diese Inszenierung in Karlsruhe punktet mit starken Bildern und lässt doch Ratlosigkeit zurück. Sie hält nicht viel von der Melancholie, sondern – wie Anna Bergmann im Programmheft zitiert wird – ist ihr die scheiternde Aktivität von Frauen wichtig: „Frauen sind oft reflektierter, erkennen die Ursache für ihr Unglück und können vielleicht trotzdem nichts daran ändern. Darin liegt für mich die große Tragik der Figur.“
Und so spielt auch Sarah Sandeh die Anna Iwanowa nicht melancholisch, sondern aggressiv-laut. Da ist keine Erschrockenheit, wenn der Verwalter Borkin, von Sascha Goepel wunderbar aasig-laut dargestellt, mit der Pistole auf sie zielt. Auch in ihrer Beziehung zum jungen Sascha, den Andrej Agranovski nur in seinen Songs, aber nicht in seinen Dialogen als Liebenden vorführt, bleibt es merkwürdig diffus. Diese Figur muss nicht handeln, sie lässt mit sich geschehen. Weil sie passiv bleibt, entsteht eine aggressive Grundstimmung, die die Inszenierung grundiert.
Anna Bergmann konzentriert sich in ihrer Arbeit auf den „Seelenraum“ der Anna Iwanowa. Das geht bis in die Kostüme von Lane Schäfer hinein, die die jeweilige Stimmungslage andeuten. Diese Fokussierung lässt die anderen Akteure zu Nebenfiguren werden. Das betrifft nicht nur ihren Mann, der (kaum wahrnehmbar) hustend über die Bühne wuselt. Jannek Petri gibt dieser Rolle die Aura des Unbedeutenden, selbst in der Szene, da er seine Frau in den Armen des Sascha entdeckt, bleibt nur eine abwehrende schmerzhafte Geste. Am stärksten drängt sich der Plänemacher Borkin hervor, den Sascha Goepel als Poltergeist anlegt. André Wagner als Graf Schabjelski oder Bayan Layla als die junge Witwe Babakina bringen leichte Töne in die Inszenierung, wie auch Claudia Hübschmann als Dame. Timo Tank und Antonia Mohr spielen das Elternpaar von Sascha: er jovial Wodka saufend, sie kleinkrämerisch. Beide leben eine Zukunft für Anna Iwanowa vor, die diese verabscheut.
Mit stoischer Ruhe steht Marielle Layher als Dienstbotin in den ersten drei Akten mit einem Tablett voller Flaschen und Gläser auf der Bühne. Erst im vierten (und letztem) Akt wird sie aktiv. Sie schiebt in der Mitte die glitzernde Kohle zusammen, das Ensemble, nun in gegenwärtigen Kostümen, sitzt derweilen auf Gartenstühlen im Hintergrund. Angesagt ist die Hochzeit von Anna Iwanowa mit Sascha. Vom Glücklichsein keine Spur. Es kommt zum großen Showdown, Anne Müller als die Ärztin Lwowa schlägt ihr ins Gesicht, sie zieht eine Pistole, die in einer großen Rauferei verloren geht, von Anna aber wiedergefunden wird. Am Ende erschießt sie sich, eine verwirrte Gesellschaft um sich herum hinterlassend.
Die größten Eingriffe hat Anna Bergmann bei der Rolle der Ärztin vorgenommen, die nicht wie bei Tschechow leidend zuschaut, sondern Iwanow liebt und deshalb tätig wird – und doch unfähig ist, eine Pistole in die Hand zu nehmen.