Foto: Gefangene im Seelenraum: Kangmin Justin Kim (Arthur Gordon Pym), Wilfried Staber (Peters), Kresniks Tänzer und der Heidelberger Bewegungschor in der Uraufführung von Johannes Kalitzkes Oper "Pym". © Annemone Taake
Text:Detlef Brandenburg, am 19. Februar 2016
Wohin soll die Reise denn gehen? In seinem 1838 erschienenen Roman „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“ bemüht sich Edgar Allan Poe, diese Frage mit ernst vorgetragener Pseudoexaktheit zu beantworten. So eine Fiktion von authentischer Seriosität war fester Bestandteil der bereits im 18. Jahrhundert – seit ein gewisser Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel strandete – sehr angesagten Seeabenteuer-Romane. Und wie auch in Melvilles 13 Jahre nach Poes kühnem Kolportageroman entstandenem Walfang-Epos „Moby Dick“ geht die Fahrt von der sagenumwobenen Walfängerinsel Nantucket aus gen Süden: Der junge Titelheld, zunächst als blinder Passagier in einer düsteren Kiste eingeschlossen, übersteht mit seinen Freunden Augustus und Peters eine blutige Meuterei und einen wilden Sturm, wird von dem Handelsschiff „Jane Guy“ aus höchster Not errettet und von schwarzen Wilden in einen Hinterhalt gelockt, entkommt gemeinsam mit Peters erneut mit knapper Not, um schließlich mit seinem Boot in einem „Malstrom“ ans Ende der Welt getrieben zu werden, wo ihm eine rätselhafte weiße Gestalt begegnet.
Auf den ersten Blick liest sich der Text wie andere Seefahrer-Romane des 19. Jahrhunderts auch. Doch der wahre Weg dieses Titelhelden ist nicht auf der Seekarte, sondern auf der Seelenkarte verzeichnet. Er führt in die Tiefen und Untiefen der menschlichen Psyche mit all ihren Sehnsüchten, Ängsten und Grausamkeiten. Diese innere Welt allerdings will Poe, anders als die äußere, keineswegs exakt vermessen, sondern dem Leser vielmehr in ihrer unermesslichen Ungeheuerlichkeit möglichst suggestiv vors innere Auge stellen. Inwieweit das gelingt, ist in der Rezeption des Romans aus guten Gründen umstritten. Allzu willkürlich rafft der Autor Schauereffekt auf Schauereffekt, allzu wild vermengt er Meeresbrausen und Mythenrauschen, Seemannsgarn und Symbolismus. Deshalb ist es schon mal eine beachtliche Tat, dass der Komponist Johannes Kalitzke und sein Librettist Christoph Klimke für die jetzt am Theater Heidelberg uraufgeführte Oper „Pym“ eine dramaturgisch vergleichsweise stringente Form gefunden haben. Auch sie beginnt zwar mit Entermesser schwingender Meuterei. Aber das ist nur ein Sprungbrett, von dem aus sich die musikdramatische Handlung emporfedert in immer entlegenere symbolische Regionen. Klimke stützt diese Regionen ab durch in die Handlung eingezogene lyrische Texte von Walter Benjamin und Fernando Pessoa. Und Kalitzke beglaubigt sie durch eine von handfester Lautmalerei (etwa die Sturmmusik des Beginns) in immer surrealere Verfremdungsklänge ausgreifende Musik.
Dieser Klangkosmos ist auch deshalb so faszinierend, weil sich die Fremdheit immer wieder aus verfremdeten Anklängen traditioneller Musikformen herausschält. Immer klingt auch das mit, als dessen Anderes sie erscheinen soll: eine barocke Chaconne; eine wildromantische Toccata; eine Berceuse (die unversehens in das kannibalistische Abschlachten eines Kameraden mündet). Außerdem gibt Kalitzke mit durchaus raffiniertem Pragmatismus der Oper, was der Oper ist: Das Melos der Singstimmen entwickelt er mit expressiv-kantablem Gestus aus dem emotionalen Zustand der Figur, während der vielschichtige, durch Samplerklänge verfremdend angereicherte Orchestersatz (Live-Elektronik: Andreas Breitscheid) und ein Vokalquartett den unmittelbar dramatischen Gesang mit einer Aura von Bedeutung umgeben. So wie der Gesang der Solisten in dieser Klangumgebung quasi seiner eigenen Interpretation begegnet, so begegnet die Seele des Pym am Ende der Welt in der „Weißen Gestalt“ ihrer eigenen Wahrheit. Die Flucht in die Fremde führt zurück in die Abgründe des Ich – man denkt unwillkürlich an Kubricks „Space Odyssey“.
Johann Kresnik, der 76-jährige Altmeister aller Regie- und Tanzberserkerei neueren Datums, hat bei der Uraufführung am Theater Heidelberg für diese Selbstbegegnung der Seele des weit gereisten Pym aus Nantucket leider kein überzeugendes Bild gefunden. Aber welche erlittenen Schrecknisse ihn fort treiben aus jener nur scheinbar heimeligen Welt, in der einst sein Geburtstag gefeiert wurde und er glücklich war „und noch niemand gestorben“ (Libretto) – das macht Kresnik mit beklemmender Dringlichkeit anschaulich. Es ist ein Trauma aus der Vergangenheit, ungreifbar, aber mächtig, irgend etwas, was im zugestoßen sein muss. Schon die Puppen in schwarzen Abendanzügen im ersten Bild, zwischen denen Pym wie wahnsinnig herumirrt und deren Köpfe baumeln wie die Häupter von Gehenkten, verweisen auf diese Vergangenheit. Sie sind die Dämonen, die ihm dann – in Kresniks von sexualisierter Gewalt aufgeladenen Choreographien nackter blauer Körper – auch auf See immer wieder begegnen, wenn die entfesselte Natur zum Spiegel seiner Traumata wird.
Hier, bei den Tableaus und Konfrontationen der Körper in den abstrakt-bewegten, von Ralf Kabrhel effektvoll ausgeleuchteten Tuchlandschaften der Bühnenbildnerin Marion Eisele, hat Kresniks Inszenierungs-Choreographie wirklich starke Momente. Wobei der anekdotische Realismus von Erika Landertingers Kostümen mit ihren Knopfleisten-Westen, Matrosenkrägen und bunt gefiederten „Wilden“ die Abstraktheit der Bilder nicht immer glücklich konterkariert. Auf seine Weise verliert sich aber auch Kresnik gern mal selbstverliebt in den eigenen Mitteln und tritt dadurch auf der Stelle, statt seinen Deutungsansatz zu vertiefen. Im Finale erinnert die erratisch aufgerichtete Sockelfigur der „Weißen Gestalt“ mit ihren blendend ausgebreiteten Tuchflügeln dann zwar an Benjamins im Libretto mehrfach anklingende Engelssymbolik. Aber statt des Sturzes in die Seelentiefe bietet sie letztlich doch nur ein Theatereffekt. Die im Programmheft angesprochene und auch in der Partitur verzeichnete Steuerung des Klangs mittels Kinekt-Bewegungssensoren konnte ich in dieser Szene übrigens nicht identifizieren.
Die musikalischen Leistungen sind durchweg exzellent, woran Elias Grandy, der junge Generalmusikdirektor des Hauses, einen großen, ja, vielleicht sogar den größten Anteil hat. Grandy hat sich offenbar genau klargemacht, worauf es bei Kalitzkes Musik ankommt: nicht auf das Herauskitzeln von Effekten, sondern auf die wohldisponierte Organisation des rhythmischen und dynamischen Ablaufs. Diese Musik funktioniert in sich perfekt. Und Grandy sorgt durch schlagtechnisch bestens gesteuerte Präzision und aufmerksame Sängerführung dafür, dass sie ihre innere Struktur optimal entfalten kann. Der Countertenor Kangim Justin Kim interpretiert die Partie das Pym maßstabsetzend, es ist eigentlich schier unglaublich, dass ein Haus wie Heidelberg einen solchen Sänger im Ensemble hat. Aber auch der klar konturierte, dunkel und markant timbrierte Augustus des Baritons Ipca Ramanovic und der bassmarkig-herbe Peters des Baritons Wilfried Staber machen ihre Sache hervorragend. Und selbst mittlere Partien wie der dunkle, dabei enorm agile und flexible Tenor Namwon Huh in der Partie der „Weißen Gestalt“ sind absolut hochklassig besetzt.
Und nervenstark sind sie auch in Heidelberg. Bei der Premiere senkte sich nach etwa zehn Minuten unvermutet der Vorhang über das Geschehen, die Musik brach ab, weil die Live-Elektronik ihren Geist aufgegeben hatte. Also Reset und noch mal von vorn das Ganze – die Heidelberger Opernkünstler ließen sich dadurch aber keineswegs in ihrer emphatischen Interpretation von Kalitzkes Partitur irremachen und hielten Kurs auf ihrer Seefahrt, zur Begeisterung des Publikums, das die Uraufführung animiert beklatschte.