Ensembleszene aus „Tausend Sonnen“, einer Koproduktion der Bürger:Bühne am Staatsschauspiel Dresden und der Theater Chemnitz

Sedimente

Tobias Rausch: Tausend Sonnen

Theater:Theater Chemnitz, Premiere:04.12.2022 (UA)Regie:Tobias Rausch

„Tal des Todes? Aber das ist doch unsre Heimat.“ „Ich bin Bergmann. Wer ist mehr?“ „Das Leben ging ein, aber es war doch meine Jugend.“ Schicht um Schicht wird freigelegt, Geschichte und Geschichten rund um die Wismut erzählt. Und wenn das gesummte „Steigerlied“ am Ende des Abends verklingt, ergänzt das Publikum nicht nur singend den Text, sondern bleibt mit einem im Kopf angehäuften Gebirge von Wismut-Wissen zurück.

Die Wismut war von Ende der Vierziger-Jahre bis 1991 das weltweit größte Unternehmen, das Uran förderte. Es prägte Generationen im sächsischen Erzgebirge, wo man ohnehin einer langen Bergmann-Tradition anhaftet. Seine Abwicklung steht Pars pro toto für die harte Transformationserfahrung ehemaliger DDR-Bürger, aber auch für den Raubbau an Mensch und Umwelt. Für die, die dort gearbeitet haben, ist die Wismut mit Kollegialität verbunden, denn unter Tage musste man sich auf jeden verlassen können und alle waren zur Verschwiegenheit verpflichtet, was besonders zusammenschweißt. Der Betrieb war auch Teil des nuklearen Wettrüstens, denn er belieferte das sowjetische Atomprogramm. Er steht ebenso für den Energiehunger, dessen Abhängigkeitsverhältnisse der Krieg in der Ukraine gerade vorführt. Von all dem und vielem mehr berichten die fünf Spielenden auf der Chemnitzer Bühne – Etliches davon ist selbst erlebt. Die Fünf sind ehemalige Wismut-Mitarbeitende, die „Tausend Sonnen“ zusammenführt; als Projektder Theater Chemnitz und der Bürger:Bühne am Staatsschauspiel Dresden. Nach Texten von Tobias Rausch, der auch als Regisseur wirkte, entwickelten sie das Stück gemeinsam bei den Proben. In gelben Overalls erzählen sie von persönlichen Erlebnissen, Gerüchten über den Betrieb – „genau das sind diese Wismut-Geschichten“ – und Schnipseln aus der Welthistorie.

Weltfrieden, Südfrüchte und „Kumpeltod“

„Ich habe es für die Kohle gemacht.“ „Aber es war doch für den Weltfrieden.“ Vor einem Bühnenbild aus brauner Pappe, das wie ein Profilschnitt durch Gesteinsschichten wirkt, werden Verwerfungen deutlich (Bühne: Anna Maria Münzner). Die harte Arbeit war gut bezahlt. Es gab exklusiven Zugang zu Produkten und Nahrungsmitteln (Südfrüchte!), die andere DDR-Bürger nicht hatten. Und garantierte Gratisrationen von Trinkbrandwein, auch „Kumpeltod“ genannt. Also lockte er jene, die nach lukrativer Arbeit suchten. Aber konnte man auf diese nicht auch stolz sein? Hielt sie nicht die deutsch-sowjetische Freundschaft aufrecht? Und mit dem nuklearen Wettrüsten haben doch die US-Amerikaner angefangen. Aber ganze Gemeinden sind verschwunden. War das Erzgebirge nicht schon seit dem Mittelalter löchrig wie ein Schweizer Käse und wird hier heute nicht nach seltenen Erden gesucht? Aber verdient haben immer nur andere.

Jenseits der Verklärung

Die Widersprüche wollen nicht aufgeklärt werden, dafür soll alles zur Sprache kommen. Indem die Spielenden mal sie selbst sind, dann in andere Rollen schlüpfen, gelingt es ihnen, ein umfassendes Bild zu erzeugen. Es werden gleichrangige Perspektiven auf die Wismut sichtbar, die in ihrer Fülle fast zu erschlagen drohen, aber alle ihre Berechtigung haben. Der leise Singsang sächsischer Mundart und die Kenntnis jedes berichteten Details machen die Darstellung überzeugend. Hier darf man wirklich von den viel strapazierten „Experten des Alltags“ sprechen. Natürlich ist das mehr Vortrag als Spiel, mal ein bisschen bemüht, mal zäh – es sind Amateure. Aber das unterstützt das Anliegen eher. Denn es geht um Erinnerung. Darum auch sind die Requisiten zurückhaltend gestaltet, sind allesamt auch aus brauner Pappe und werden zum Teil aus dem Bühnen-Berg-Bild herausgeschält. So können sich die Darstellenden an Telefonhörern und Flaschen, Sägen und Zigarren festhalten, ohne dass es nach versuchtem Naturalismus aussieht.

Das Publikum wohnt einem persönlich berührendem, dichtem Abend bei, wenn Sediment um Sediment jenseits der Verklärung freigelegt wird. Plötzlich ist „Tausend Sonnen“ voller Brisanz, wenn man erfährt, dass nach der Katastrophe von Tschernobyl Wismut-Uran über Europa wehte. Oder dass mit den Bergbaufolgeschäden und vergifteten Schichten noch eine Zeitbombe unter der Gegend lauert. Und dass die Atomwaffen, mit denen Putin derzeit droht, Uran aus dem Erzgebirge enthalten. „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht…“

Einen Werkstattbericht zu „Tausend Sonnen“ finden Sie im Oktoberheft der DEUTSCHEN BÜHNE.