Ensembleszene aus "Der Doppelgänger" von Lucia Ronchetti, unten rechts Peter Schöne als Goljadkin.

Wunderwerk Musik

Lucia Ronchetti: Der Doppelgänger

Theater:Rokokotheater, Schwetzinger Schloss, Premiere:26.04.2024 (UA)Autor(in) der Vorlage:Fjodor M. DostojewskiRegie:David HermannMusikalische Leitung:Tito Ceccherini

Die Uraufführung „Der Doppelgänger“ von Lucia Ronchetti, die Eröffnungsproduktion der Schwetzinger SWR Festspiele, gelang musikalisch aufregend. Szenisch blieb sie im Abstrakten stecken.

Der „Doppelgänger“ ist ein wesentliches Motiv der deutschen Romantik, ob als Schatten, Spiegel oder Leerstelle, die aus einem schlechten Gewissen oder einer Passivität des Protagonisten entstanden ist. Unscharf wird dieses literarische Topos durch romantische Ironie: Wir wissen nie sicher, ob der Doppelgänger der Phantasie des Protagonisten oder des Erzählers entspringt. Beispiele in der deutschen Literatur sind Romane wie E.T.A. Hoffmanns „Elixiere des Teufels“ oder Gedichte wie „Erscheinung“ von Adelbert von Chamisso. Dostojewskis frühe Novelle „Der Doppelgänger“ von 1846 ist in Deutschland unbekannt geblieben, vielleicht auch, weil der Autor jene romantische Ironie eben nicht in den Griff bekommen hatte und viele Wiederholungen einbringen musste, um Klarheit in sein Werk zu bringen.

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Keine romantische Ironie

Die Komponistin Lucia Ronchetti schreibt über ihre Oper „Der Doppelgänger“ nach Dostojewski, dass in der Oper „alles von Goljadkin erzeugt wird“, dem Protagonisten. Also ist hier die romantische Ironie ausgesperrt. Es geht allein um die Deskonstruktion eines Menschen, was die Librettistin Katja Petrowskaya unterstützt, indem sie die Novelle sehr gleichmäßig kürzt, keiner anderen Interpretation Raum gibt. Hier geht es nicht um einen sozial Benachteiligten oder ein menschenverachtendes, bürokratisches System. Goljadkin leidet hier einfach unter sehr geringem Selbstbewusstsein und ist nebenbei niedergedrückt durch das hierarchische, russische Beamtensystem, was dem Roman sozusagen prä-kafkaeskes Flair gibt.

Peter Schöne verleiht Goljadkin vom ersten Ton, einem Stöhnen, Sympathie und Ausstrahlung, singt geschmeidig in der Bariton- und Counterlage. Aber das Stück kommt trotzdem nicht vom Fleck weg, weil Bettina Meyer die Bühne als Setzkaten mit mobilen Wänden gestaltet hat. In diesem abstrakten Setting werden die Handlungselemente nicht immer klar. Etwa den großen Auslöser der Krise in der dritten Szene, wo Goljadkin ­– trotz Einladung – von einem Fest verwiesen wird, versteht man nicht, trotz des deutschen Textes. Auch gelingt es Regisseur David Hermann nicht, den Niedergang dynamisch zu inszenieren. Die Dramaturgie ist bei ihm eher eine Kette von Momenten ohne Steigerung. Die Sänger stehen, sitzen, liegen, gehen in den Kästen umher und singen. Nichts führt weiter, alles gerät statisch.

Herausragendes Ensemble

Das ist sehr schade, weil die Besetzung dieser mit dem Luzerner Theater koproduzierten Premiere – wo die Inszenierung im Herbst zu sehen ist – ausgezeichnet ist. Olivia Stahn ist mit sehr reiner Höhe und ungewöhnlichen Körperbewegungen eine überzeugende widerstrebende, letztlich verschmähte Geliebte, Christian Tschelebiew ein Doppelgänger mit virtuos geführten, rollenspezifisch etwas bleichem Bass. Mit Robert Maszl, Zwi Emanuel Marial und Vladyslav Tlushch bildet Tscheliebew zusätzlich ein Vokal-Quartett, das musikalisch, oft aus dem Off, zu Goljadkins Gegenspieler wird.

Wunderwerk Musik

Somit sind wir bei der Musik dieser Uraufführung – ein wirkliches Wunderwerk. Repetionen und Variationen von Tönen oder kleinen musikalischen Mustern wechseln sich ab mit clusterhaften Elementen und melodischen Fragmenten. Vokalisen der Sänger sind hineingeflochten, die Duette und Terzette sind kostbar, wie die Sänger:innen sich finden, sich umschlingen, sich entfernen, ganz leise, ganz langsam, ganz nahbar. Das ist neu, sozusagen ungehört, und es passt zu der transparenten, etwas körnigen Akustik des Rokokotheaters.

Gleichzeitig ist diese vielfarbige, immer im Fluss befindende Musik von einer auseinandertreibenden Struktur, der Klang scheint zu zerplatzen, die Komponenten streben auseinander, treiben zum Rand, in der Mitte, so hören wir es, entsteht Neues. Im Gegensatz zu der Inszenierung hat Ronchettis Musik die Dekonstruktion der Hauptfigur immer im Blick, sensibel und sogar dynamisch ausagiert von dem musikalischen Leiter Tito Ceccherini und dem SWR Symphonieorchester. Diese Musik will man unbedingt noch einmal hören, deswegen klatscht das Premierenpublikum ausgelassen und üppig.