Foto: "Gravitas" (UA) am Stadttheater Gießen. Caitlin-Rae Crook, Mamiko Sakurai, Romain Arreghini, Magdalena Stoyanova, Agnieszka Jachym, Sven Krautwurst (v. l.) © Katrina Friese
Text:Bettina Weber, am 13. Mai 2016
Wie von einer unsichtbaren Macht werden die Arme der Tänzer gleichzeitig zur Seite gezogen. Körper neigen sich in Zeitlupe und fallen blitzartig. In seinem neuen Tanztheaterstück „Gravitas“ im taT, der Studiobühne des Stadttheaters, setzt sich der Gießener Chefchoreograph Tarek Assam mit der Gravitation auseinander. Dabei veranschaulicht er vor allem das Grundprinzip der physikalischen Grundkraft: Sie löst Bewegungen aus, Bewegungen von Massen: Teilchen, Gegenständen, Körpern. Der gut 60-minütige Abend besteht aus einer Reihe von kurzen, ineinander übergehenden Szenen, die der Gravation in all ihren möglichen Wirkungen choreographisch nachzuspüren versuchen. Geschickt verbinden Assam und seine Tänzer dafür anspruchsvolle Bewegungsfolgen. Manche der abwechselnd rasanten, dann überraschend starren Bewegungsvariationen, in denen sich die Tänzer stützen, halten und fallen lassen, wirken wie eine ganz unmittelbare Versinnbildung von Ursache und Wirkung. Die Körper der Tänzer treten nicht nur in Verbindung mit dem Boden und dem Rest ihres Bühnenumfelds – zwei schräg gestellte, halb durchsichtige Wände, umrahmt von senkrechten Neonröhren – sie verbinden sich stützend, tragend und haltend miteinander oder drehen sich wie Planeten aneinander vorbei. So rückt zugleich die menschliche Anziehungskraft in den Blick – unsichtbar, unabschirmbar, unbegrenzt wie die Gravitation. Nahezu permanent werden die beiden Wände mit Videos (Installation: Lieve Vanderschaeve) bespielt, die Text, Bilder oder graphische Muster zeigen, dazu schafft das abwechslungsreiche Lichtkonzept immer wieder neue Szenerien durch hektisches Flackern oder Farbvariationen vom Neon- bis zum Schwarzlicht, was den ganzen Bühnenraum instabil wirken lassen soll. Nicht immer gelingt der Versuch der optischen Täuschung, zumal den technischen Effekten in der kleinen Studiobühne Grenzen gesetzt sind, doch trotzdem erfährt der Abend auf diese Weise eine dauerhafte Grundspannung.
Oft sind die choreographischen Bewegungsfolgen, zu denen sphärisch-elektronische Sounds eingespielt werden, kunstvoll und virtuos, dann plötzlich sprechen die Tänzer ganz konkret und nüchtern über die physikalischen Gesetze, die hinter der allgegenwärtigen Präsenz der Massenanziehungskraft stecken. Dabei reden sie auch mal (nicht verständlich für alle) in ihren verschiedenen Muttersprachen miteinander – wer braucht schon Formeln, wenn sinnlich erfahrbar ist, wie ein physikalisches Gesetz wirkt? Auch die Banalität der allgegenwärtigen Schwerkraft nimmt der Abend in den Blick, zum Beispiel, wenn Romain Arreghini einen Apfel in die Höhe wirft, wieder auffängt und ruft: „C’est la gravité!“. So werden spielerisch Kontraste geschaffen.
Hinter dem Begriff Gravitation verbergen sich auch Theorien und Ideen: Was würde geschehen, wenn das Prinzip aufgehoben wäre? Durch das dreidimensional anmutende Raumkonzept vollzieht Tarek Assam immer wieder auch eine Art Versuchsanordnung, in der Kräfte außer Kraft gesetzt sind, Zeit und Raum gedehnt wirken sollen. Dass da auch mal zwei Tänzerinnen scheinbar schwerelos kopfüber im Fluggeschirr hängen, wirkt zwar fast schon plump, weil vorhersehbar. Doch überwiegend gestaltet Tarek Assam seine Choreographie in überzeugender Art und Weise ganz abstrakt. Nahezu bezaubernd ist es, wenn sich die Tänzer in grellbunten Oberteilen mit langen Fäden, die sie über ihre übrige schwarz-weiße Kleidung (Bühne und Kostüme: Michele Lorenzini) gezogen haben, langsam krümmen, strecken, verengen und sich wie physikalische Teilchen durch den Raum bewegen. Nicht jede der kurzen Szenen ist derart zwingend, doch das Raumkonzept und die thematische Grundidee werden dramaturgisch stringend und technisch sowie tänzerisch nahezu einwandfrei umgesetzt – einhelliger Applaus.