Foto: Das Ensemble auf Anna Viebrocks Bühne für "Heimweh & Verbrechen" von Christoph Marthaler © Walter Mair
Text:Ruth Bender, am 24. Februar 2014
Es ist ein feines Déjà vu, das Christoph Marthaler da am Deutschen Schauspielhaus Hamburg angezettelt hat. 21 Jahre nach den Erfolgen mit „Faust Wurzel 1+2“, 15 Jahre nach seiner letzten Hamburger Inszenierung. Und auch die Bandbreite der Reaktionen ist ähnlich, jetzt zur Uraufführung von „Heimweh & Verbrechen“: von ungnädigen Buh-Rufen bis zu stehender Begeisterung.
Schon die Bühne erzählt eine einzige ungare Heimat-Saga: Anna Viebrock hat einen von diesen monumental vermoderten Viebrock-Räumen gebaut, irgendwo zwischen Zuchtanstalt, Bahnhofskneipe und Kathedrale. Mit Wänden, die in den Himmel streben, winzigen Fenstern in absurder Höhe, aus denen keiner hinausschauen kann, und einer massiven Eingangsfront, die so verstörend einem monströsen Kamin ähnelt. Darüber der vieldeutige Sinnspruch „Mein Feld ist die Welt“.
Mag sein, dass die Schweizer gerade einen Grund mehr haben, über das Heimweh nachzudenken und jenes Phänomen, das (wirklich nur, weil von einem Schweizer Arzt entdeckt?) unter dem Namen „morbus helveticus“ zum Gegenstand der Wissenschaft wurde. Aber der Volksentscheid über die Zuwandererbegrenzung spielt bestenfalls als Begleitmusik im Kopf des Betrachters eine Rolle an diesem Abend, dessen Titel Marthaler von Karl Jaspers entlehnt hat: Der Philosoph untersuchte 1909 in seiner gleichnamigen Doktorarbeit einige Fälle von jugendlichen Dienstmädchen, die aus einem Übermaß an hilflosem Heimweh heraus ihre Schützlinge töteten.
Marthaler nimmt den Stoff und den Gedanken als Assoziationsmaterial, destilliert hier und da eine Geschichte. In kindliches Erstaunen verpuppte Erinnerung, wie sie Irm Hermann vorträgt. Tonlos neutraler Vortrag aus den Gerichtsakten, wie ihn Josef Ostendorf durchzieht. Und Ulrich Voß steuert den Monolog eines heimatvertriebenen Diktators bei – Honecker lässt grüßen.
So zirkulieren sie durch den Raum wie heimatvertriebene Zombies, nehmen Aufstellung zu einem Schweigechor, bei dessen Anblick sich Beklemmung und Komik die Waage halten. Sie strömen herein und heraus, vereinzeln und fließen in rätselhaften Schwärmen wieder zusammen. Marthaler’sche Präzisionsarbeit.
Und natürlich singen sie. „Lustig ist das Zigeunerleben“, „So leb denn wohl du stilles Haus“, „Lieb Heimatland adé“. Dirigiert von Clemens Sienknecht, dem kongenialen Musiker-Schauspieler-Chorleiter-Arrangeur, der hier den Guru gibt, den Dompteur oder Conferencier. Mit weggeworfenen Gesten, fließenden Händen und überhaupt in dieser ausgefuchst zackigen Schlenkerigkeit. Ein wunderherrliches Sehnen, Beschwören und Klagen zwischen Chanson und Kirchenchor. Immer wieder abgebrochen oder übermalt vom wüst schreddernden Elektro-Cello, das Martin Schütz aus dem Rang beisteuert. Abbrechend in tonlose Leeren, hängen geblieben wie eine alte Platte.
Einmal mehr erzählt Marthaler in „Heimweh & Verbrechen“ vom Warten und von der Erwartung. Das dehnt sich manchmal zu quälender Länge, ist hier und da sehr komisch, sehr viel öfter aber so düster nachhallend wie ein Echo vieler Vergangenheiten. Das findet im Finale seinen schwarzhumorigen Höhepunkt. „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“ singt Sienknecht da und macht aus dem Choral aus Bachs Matthäuspassion eine unverschämt flirrende Easy-Listening-Nummer. Und versetzt die Schauspieler damit in lockend tänzelnde Schwingung. Kein leichter, aber ein schwebender Abend.