Foto: Annette Dasch und Joel Prieto in "La finta giardiniera" an der Berliner Staatsoper. © Ruth Walz
Text:Wolfgang Behrens, am 26. November 2012
In seinem autobiographischen „Bastardbuch“ hat Hans Neuenfels kürzlich eine Lanze für alle irrsinnigen Opernlibretti à la „Troubadour“ gebrochen: „Ich war gerade von solchen vermeintlich idiotischen Geschichten überzeugt, weil sie nämlich meiner Meinung nach den tieferen Punkt einer Wirklichkeit berühren, die wir abtun, um nicht an das ständig uns sinnlos Überwältigende glauben zu müssen, eben an die Zufälligkeit unserer Existenz. (…) Ich fühlte mich bestätigt in der Unwahrscheinlichkeit der trügerisch geordneten Welt“.
Offensichtlich kann es aber auch einem Hans Neuenfels zu idiotisch und zu bunt werden: Das Libretto von Mozarts Frühwerk „La finta giardiniera“, das er nun mit dem neuen Untertitel „Die Pforten der Liebe“ an der Staatsoper Berlin inszenierte, erschien ihm derart verfehlt, dass er es kurzerhand in die Ecke pfefferte und ein neues schrieb, Secco-Rezitative strich, dafür aber zwei Sprechrollen (für Elisabeth Trissenaar und Markus Boysen als altes Paar) hinzuerfand. Unwahrscheinlichkeit und tiefere Idiotie sind geblieben, verschwunden hingegen sind Rokokoplüsch und Genrehaftigkeit. Der neue Text ist im Grunde eine collagierte Fantasie über Mozarts Musik und über die widersinnige Möglichkeit der Liebe. Bewusst die Albernheit streifende Verschen, anzügliche Wortspiele und die witzige Dekonstruktion der Theatersituation mischen sich da mit aufschließenden essayistischen Einsichten, die der Regisseur und Autor höchstpersönlich mit seiner vom Alkoholge- und -missbrauch weise gewordenen Stimme vom Band einspricht.
Wie Neuenfels nun anhand des neu gedichteten Stücks in die Abgründe der Liebe und des Eros hineinleuchtet, das ist schlicht phänomenal. Mit seinem kongenialen Bühnenbild-Partner Reinhard von der Thannen zeigt er keine liebliche Garten-Idylle, sondern eine dunkle, aus seltsamen, anthrazitfarben schimmernden Raumkörpern, schwarzen Vorhängen und barocken Vanitas-Visionen geformte Rätselwelt. In dieses Setting hinein setzt Neuenfels mal tiefenpsychologisch dichte, mal spielerisch leichte Szenen, die die verwirrenden Liebeskonstellationen aus Mozarts Vorlage schlaglichtartig umkreisen. Der von seinem Eros überwältigte Podestà etwa – wunderbar lebendig gesungen und dargestellt von Stephan Rügamer – wird, während er in seiner Arie unschuldig von süßem Flöten- und Oboenzauber schwärmt, von in Phalloi auslaufenden Blasinstrumenten bedrängt. Die fabelhaft mutig die hohen Töne attackierende Alex Penda zerkleinert als rachsüchtige Arminda punktgenau zur Musik Orangen und Möhren, die vorher aus den Boxer-Shorts der Komparserie zutage gefördert wurden. Und immer wieder weisen Todessymbole – wie ein über den Häuptern der Liebenden kreisender Geier – auf die dem Eros innewohnende Untergangssucht hin.
Am weitesten kommt Neuenfels dort, wo er Liebe als existentiell ungeschützte Begegnung zeigt, die vom mörderischen Kampf fast nicht zu unterscheiden ist. In einem stummen Vorspiel während der Ouvertüre endet harmloses Getändel zweimal in Gewaltakten – die Vorgeschichte von Mozarts Oper, in der die Gräfin Violante von ihrem Liebhaber Belfiore (Joel Prieto) lebensgefährlich verletzt wurde, wird hier ganz ernst genommen. Wie ist Liebeserneuerung nach einer solchen Tat möglich? Neuenfels schickt seine mit großer expressiver Intensität agierende Protagonistin Annette Dasch in schwarze Seeleninnenräume, in die sich die anderen Figuren nur mit schützenden Plexiglas-Schildern vor ihren Körpern hineinwagen. Als der Plexiglas-Panzer ihres Geliebten fällt, vermögen die beiden ihren Eros, ihre Liebe, ihren Hass – was eigentlich? – nicht zu kanalisieren: Sie erstechen sich gegenseitig. In einem utopischen Moment entsteigen sie am Ende gläsernen Schneewittchen-Särgen, um zwischen Projektionen von Sonne und Mond hindurch in einem verheißungsvollen Lichttunnel zu verschwinden.
Der abgeklärt hergeschenkte Bilderreichtum dieser Inszenierung wird sich vielleicht erst bei weiteren Begegnungen vollends offenbaren. Erfreulich indes, dass auch die musikalische Seite jederzeit standhält: Keine Rolle wird schematisch gestaltet, man vernimmt individuellen, sprechenden Mozart-Gesang mit leichten Schwächen, aber aus vollen Herzen. Und die Staatskapelle unter Christopher Moulds beweist mit ihrer quirligen und ungemein frischen Darstellung, wie sehr die historisch informierte Aufführungspraxis mittlerweile im traditionellen Opernbetrieb angekommen ist.