Foto: Noch steht es!. Jules und Alice (Titus Devoogt und Janne Desmet) sehen zu, wie ihr langjähriges Zuhause im 'Sumpfland' versinkt. © Stephan Glagla /Ruhrtriennale 2016
Text:Andreas Falentin, am 29. August 2016
Am Ende versinkt ein veritables, würfelförmiges Einfamilienhaus rumpelnd und ohne Netz oder doppelten Boden in der niederrheinischen Erde und der Zuschauer verlässt das abendlich dämmernde Maisfeld in the middle of nowhere (genauer: gleich bei Bottrop – Grafenwald) sowohl ergriffen als auch bestens unterhalten – eine durchaus seltene Kombination, selbst bei herausragenden Theaterabenden.
Das Genter Kollektiv Studio ORKA spielt gerne Open Air und wühlt offenbar besonders gerne in der Erde. Die Ausgangsidee ist stets ein Handlungskern von überschaubarer Komplexität, aber archaischer Kraft. Im letzten Jahr erzählte „Sturzflug“ die Geschichte zweier Brüder, die sich verloren hatten und auf aberwitzige Weise wiederfanden. Nun erzählt „Sumpfland“ die Geschichte von Bruder und Schwester, die aus Trauer um ihren verstorbenen jüngeren Bruder in ihrem Leben gefangen sind. Die Mittel in beiden Inszenierungen gleichen sich. Man wählt ein heutiges Sonderlingsmilieu, überformt es mit Absurditäten, verzichtet auf illusionistisches Spiel, setzt auf Energie, clownesk anmutende Körperlichkeit, mechanische Spezialeffekte und Live-Musik. Die Ergebnisse sind so spektakulär wie berückend.
„Sumpfland“: das Einfamilienhaus ist, war eine Kneipe. Früher war hier die Zielgerade eines großen Radrennens, der, naja, „Tour de Ruhr“, ein legendärer Ort und natürlich ein guter Platz für einen gastronomischen Betrieb. Das Radrennen gibt es lange nicht mehr. Die Geschwister Alice und Jules leben von wenigen Gästen und von dem, was Jules, der ein legendär feines Gehör hat, an Wild auf Wald und Feld (Spezialität des Hauses: Ponyburger) mit Flinte und Messer so erlegt. Dazu ist eine dreiköpfige Rockband hier gestrandet und wartet seit Tagen auf den Pannendienst. Der Ort ist verlassen, denn er wird aus unerklärlichen Gründen immer feuchter. Pfützen, kleine Seen fast umgeben das Haus, das seit Jahren zentimeterweise absinkt. Jules vermutet, dass es die Tränen seiner Schwester sind, die sie um den kleinen Bruder vergossen hat. Dazu kommt Dan, der einst beliebte Lehrer, der seine Ausstrahlung und sein Selbstbewusstsein verloren hat und von seinen Schülern nur noch als Opfer genutzt wird und Ulrike, deren Vater einst unabsichtlich am Tod des Bruders beteiligt war, weswegen er hier und da Blumen schickt. Zwischen diesen beiden entwickelt sich eine laut verschrobene, hauchzarte Liebesgeschichte. Immer wieder balancieren alle Beteiligten über Balken durch die Pfützen, gleiten aus oder geraten sonstwie hinein, werden irgendwie Teil dieses „blauen Flecks“ der Erde, wie es im kurzen Programmtext heißt. Am Ende gibt Alice dem Wunsch ihres Bruders nach, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, die Kneipe zu versenken und einen Bauernhof aufzumachen. Und immer wieder schaltet sich die Band ein, unaufdringlich dominant, mit einem minimalistisch auf der Motorhaube herumtrommelnden Schlagzeuger und verbreitet eine Stimmung wie in einem Kaurismäki-Film.
„Sumpfland“ ist einfaches Theater, direktes, geradezu rotziges und dabei fast keusch unaufdringliches Erzählen. Keine naturalistische Milieustudie, keine Analyse einer Lebenslüge, einfach ein Blick aufs Miteinander, gespickt mit Ansprachen des Publikums und einfachen Lösungsansätzen („Wenn du traurig bist, musst du weinen“), eingesetzt mit dem Wissen, dass sie nicht einfach verwendbar sind. Und doch weckt dieses Spiel großes Interesse und noch mehr Sympathie für Figuren und Spieler und erreicht eine mythische Intensität, die an antike Orestien denken lässt, oder an die großen James-Stewart-Western aus den 50ern. Nur dass Studio Orka lustiger ist!