Foto: "Die Reise des Edgar Allan Poe" am Staatstheater Braunschweig © Volker Beinhorn
Text:Andreas Berger, am 2. Dezember 2013
Am Anfang Bildstörung. Der Künstler in seinem heruntergekommenen Zimmer voller Flaschen ist vorm Fernseher eingeschlafen. Das Flimmerbild legt sich über die ganze Bühne, sie wird der Schauplatz seiner Albträume, in denen seine Schreibangst und Psychosen sich mit denjenigen des amerikanischen Dichters Edgar Allen Poe mischen. Eine gefährliche Identifikation.
So öffnen sich die Räume durch überhohe Türen labyrinthisch in immer neue Zimmer, enden mal im ersten Stock im Nichts, mal im Bad, das auch der Friedhof werden kann, voller Blumen und mit der Leiche der jungen Frau, die unter den Bodenlatten singt.
Auf der Strebe hockt Poes berühmter Rabe, Theatervolk ergießt sich in skurrilen Halbverkleidungen zum Fest, dann wieder schippen Schiffsleute Kohlen ins Zimmer wie auf einem Dampfer: Es ist das Universum Poes und seiner Schwarzen Romantik, dessen reale und erdachte Mitmenschen sich in Thaddeus Strassbergers suggestiver Regie und Bühne zum mysteriösen Reigen um Urängste und dunkle Triebe vereinen. So wird die Deutsche Erstaufführung von Dominick Argentos „Die Reise des Edgar Allen Poe“ im Staatstheater Braunschweig zu einem am Ende einhellig beklatschten Erfolg.
Es ist immerzu was los auf der Bühne, ungeahnt tauchen Figuren auf und ab, verwandeln sich und lassen den Ausdruck changieren zwischen kafkaesk-spröder Ausweglosigkeit und barock-lüsterner Fetisch-Party-Schwüle. Und doch ergeben die Szenen eine Reise in Poes Leben und Werk. Dominiert von den Ängsten vor Inzest, Versagen und Lebendig-Begraben-Werden, den geheimen Trieben zu jungen Mädchen, Lust und Mord, die seine Werke beschwören. Und so erscheinen sie, die früh gestorbene Mutter, eine Schauspieldiva, Yamina Maamar singt sie hochvibratös. Der Theaterdirektor vertritt erotisch changierend die Autorität, ist auch Richter und Priester. Rossen Krastev gibt ihm Bassmacht und darstellerische Nonchalance. Dann die junge Schwiegermutter (Milda Tubelyte), die erst 13-jährige Braut, der Dichter-Konkurrent Griswold, der ihm vor Augen hält, wie er in Suff und Exzess seine Karriere verspielt. Oleksandr Pushniak holt hier mit der ganzen variablen Kraft seines Bassbaritons aus und legt Dämonie auch in die Stimme. Als dunkelste Lust haust im tiefsten Innern das Verbrechen und sucht Poe im Wahn, seine Frau getötet zu haben, heim (eigentlich starb sie an Tuberkulose).
Dazu schlägt Dominick Argentos Musik eisern den Herzrhythmus, anfangs demonstrativ eintönig auf der Pauke, später in wechselnden Instrumentengruppen. Das treibt die Spannung zusätzlich an, ballt sich zu massiven Klangflächen und Ensembletutti, die von sinfonischer Opulenz bleiben, nur gemäßigt in harmonische Reibung ausgreifen, vor allem eine Meloslinie wahren. Da gibt es ein romantisch schönes Duett, wenn sich Poe und die Braut verbinden, eine fast hymnische Hochzeit, filmmusikartige Orchesterzwischenspiele mit viel Pathos, ein paradiesisch schönes Singen aus dem Grab, das Poes These stützt: Am schönsten ist eine tote schöne Frau. Und für die er dann in einem herzzerreißenden Monolog Rechenschaft gibt, sich schuldig bekennt. Getötet wird.
Großartig zeichnet Arthur Shen das Porträt des fast kindlich an Lust und Sünde rührenden und leidenden Berserkers mit ausdauerndem, expressiv bis an die Höhengrenzen geführtem Tenor. Und Ekaterina Kudryavtseva brilliert als Braut mit weicher, strahlender Kantilene. Sebastian Beckedorf am Pult waltet mit meisterlicher Strenge über das spätromantisch aufrauschende Orchester, zwingt bei Bedarf Chor und Rhythmus wieder zusammen, baut effektvoll Klangwucht auf und gibt den Herzstößen Spannung. Glänzend bringen sich Chor und Ensemble ein. Und dann wacht der Künstler vor dem flimmernden Fernseher wieder auf. Die tote Frau liegt neben ihm. Ob er den romantischen Traum von Schmerz und Genialität wird kreativ umsetzen können, bleibt offen. Argentos „Poe“ ist eine packende Opernentdeckung.