Foto: Marie (Susanne Elmark) als Leidensfrau: Die Finalszene aus Calixto Bieitos Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns Oper "Die Soldaten" am Opernhaus Zürich. © Monika Rittershaus
Text:Detlef Brandenburg, am 23. September 2013
Mit Calixto Bieitos Inszenierung und Marc Albrechts musikalischer Interpretation von Bernd Alois Zimmermanns Musiktheater-Koloss „Die Soldaten“ hat es eine eigenartige Bewandtnis. Noch selten ist ein Regisseur oder Dirigent diesem Werk in den vergangenen Jahren so nahe gekommen wie jetzt diese beiden: der immer wieder (auch im Vorfeld dieser Zürcher Premiere) als „Berserker“ titulierte katalanische Regisseur und der experimentierfreudige, für ungewöhnliche szenische Konzepte stets offene Musikdirektor der Nederlandse Opera Amsterdam. Gerade deshalb war die Eröffnungspremiere von Andreas Homokis zweiter Saison an der Oper Zürich ein herausragendes Ereignis in der Aufführungsgeschichte von Zimmermanns Epochenwerk.
„Die Soldaten“ fristeten lange ein Schattendasein als Phantomwerk des neuen Musiktheaters: von den Fachleuten raunend bewundert, hatte das Publikum relativ wenig Gelegenheit, die 1965 in Köln uraufgeführte Oper kennenzulernen. Zu groß schien der Aufwand, zu groß war vielleicht auch die Angst vorm Publikum. Zimmermann nahm sich Jakob Michael Reinhold Lenz’ „Die Soldaten“ zur Vorlage, ein Drama, angesiedelt zwischen dem formsprengendem Sturm und Drang und den emanzipatorischen Impulsen der Aufklärung, das auf die sozial zersetzenden Wirkungen des Soldatenstandes zielt. Lenz’ letztlich durchaus reformerisch getönte Anklage (die der Autor allen Ernstes als „Komödie“ bezeichnete) verwandelt sich bei Zimmermann in einen tiefpessimistischen Appell von Zeit und Welt umgreifender Dimension. Die Soldaten werden zur Metapher für einen alle Stände, Staaten und Epochen bestimmenden Gewaltzusammenhang, dessen Zielpunkt der Komponist in jenem Atombomben-Pilz sah, den er zum Finale der Oper, wenn sich die Schichten von Handlung und Musik sinnebetörend und ohrenbetäubend aufeinander türmen, projiziert wissen wollte.
Die Kombination aus gewaltigem Aufwand (allein im Orchester sitzen an die 100 Musiker, das Solisten-Ensemble ist riesig, die Beanspruchung der Opernmaschinerie in allen Gewerken ist Etat-sprengend), seltenen Aufführungen und legendärem Ruf hat dazu geführt, dass die Inszenierungen der „Soldaten“ oft etwas von einem Event hatten, dem man durch ungewöhnliche Raumlösungen (Ruhrtriennale in Bochum 2006), bildliche Opulenz (Salzburger Festspiele 2012) oder spektakuläre Surround- und Bühnenaufbau-Effekte (Hamburgische Staatsoper 1976) die dringend benötigte Publikumsresonanz zu verschaffen suchte. Meist mit Erfolg: die Premieren wurden, wie jetzt auch die in Zürich, enthusiastisch bejubelt.
Bieito und Albrecht dagegen verzichten auf nahezu alle bislang erlebten Effekte. Gerade das aber wurden zum besonderen Effekt: Das Orchester sitzt hier nicht verteilt im ganzen Auditorium, sondern thront, einem Hauptdarsteller gleich, auf der gewaltigen gelben Stangengitter-Konstruktion, die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst unter Mitarbeit von Anett Hunger auf die Bühne gewuchtet hatte. Wie man da beim Spielen zusehen kann, oder wie das Schlagwerk auf riesigen Wagen nach vorne geschoben wird – das hat beträchtliche Schauwerte. Der Klang wird durch diese Raumlösung konzentriert. Was bei früheren Aufführungen aus allen Ecken auf die Zuhörer eingestürmt war, kommt hier eben von vorn. Und erstaunlich: Selten hat man die Strukturen und Schichtungen dieser Musik so klar herausgehört, konnte das Ohr so tief in deren Verästelungen eindringen. Es ist geradezu hinreißend, wie konturiert Marc Albrecht die Klangarchitekturen herausarbeitet, wie souverän er die Fäden bei dieser dirigentisch durchaus halsbrecherischen Raumlösung zusammenhält.
Hoch oben auf dem Stangengerüst stehend, hat Albrecht zwar das riesige Orchester vor sich, nicht aber die Sänger. Die agieren dort, wo ihnen das Orchester Platz gemacht hat: auf dem Orchesterpodest, das nun freilich nicht im Graben versenkt, sondern hochgefahren ist. Hier, über Bildschirme mit Albrecht in Blickkontakt, zusätzlich unterstützt vom soufflierenden und ko-dirigierenden Maestro suggeritore Vladimir Junyent, sind sie um so näher am Publikum. Und das ist gut so. Denn Calixto Bieito unterstreicht nicht nur den Eindruck vom Orchester als Hauptdarsteller dadurch, dass er beim Kostümbildner Ingo Krügler moderne Soldaten-Kampfmonturen für die Musiker bestellt hat (sogar Albrecht dirigiert im tarnfarbenen Drillich!) und sie per Video unmittelbar ans szenische Spiel heranholt. In seiner Personenführung auf der Vorbühne erweist sich der „Berserker“ als sensibler Interpret, der jeder Figur ihre eigene Geschichte mit ins Bühnenleben gibt. Viele Effekte, die ihm der Komponist (vor allem in den Videos) anbietet, verschmäht er – so auch den finalen Atompilz. Durch das traditionelle Mittel der Personenregie aber stößt er bis in selten so gesehene Tiefenschichten dieses Werkes vor.
Dass die Soldaten die „Bösen“ sind und die Bürger die Opfer: davon kann bei Bieito keine Rede sein. Minutiös, gegenwartsnah in der Psychologie und in Krüglers Kostümen, zeigt er, wie schon in den Familien Wesener und Stolzius die Beziehungen gewaltförmig depraviert sind. Der alte Wesener liebt seine Marie nicht nur väterlich, die wiederum drangsaliert Charlotte wenig schwesterlich, selbst die gütige Gräfin ist hier eine lesbisch besitzergreifende Hysterikerin – man staunt beim Sehen und Hören, wie viel davon in Zimmermanns Musik ist, wie genau Bieito folglich in die Oper hineingehört hat. Dieses Schreckenskabinett der Psychopathen ist gleichsam der Humus, aus dem die Gewaltexzesse der Soldaten aufblühen – da freilich lässt sich Bieito nicht lumpen und langt kräftig hin mit Blutpampe und Drecksudelei, Prügelorgie und Sexualsadismus. Die Videos von Sarah Derendinger unterstreichen diese Psychpathologie durch Close-Ups, metaphorisieren sie in Bildern von einem madenzerfressenen Rattenkörper oder einem Hahnenkampf; nur mit dem ganz nahen Bild eines schmalen Mädchengesichts mit blondem Haar und wasserblauen Unschuldsaugen – ja, es könnte die kleine Marie sein – setzen sie einen Kontrapunkt: So rein kommen die Kinder in eine Welt, die ihnen alsbald ihre Reinheit raubt.
Die Marie wird von der jungen Dänin Susanne Elmark phänomenal gut gesungen. Natürlich ist ihr Fach die dramatische Koloratur, anderes wäre bei dieser schier unsingbar schweren Partie undenkbar. Aber sie schafft es, ihrer Marie einen lyrisch-kantablen Ton zu geben, etwas Weiches, Verletzliches jenseits der Koloratur-Attacke, das ihrem Gesang wunderbare Ausdruckskraft gibt. Auch dies eine sehr ungewöhnliche Interpretation, zumal im Zusammenwirken mit der schauspielerischen Selbstentäußerung, mit der Susanne Elmark das Publikum ebenso beschenkt wie ihren Regisseur. Ihr zur Seite Julia Riley als sehr klangvolle und profilierte Charlotte und Michael Kraus als hochexpressiver Stolzius. Überhaupt war das Riesenensemble glänzend durchbesetzt, Figuren wie Noëmi Nadelmanns hysterische Gräfin, Hanna Schwarz als herrschsüchtiges Muttertier, Cheyne Davidsons wohlklingend salbadernder Eisenhardt oder Yuriy Tsiples perverser Haudy bleiben in Erinnerung.
Am Ende enthusiastischer Beifall – wie dieser Tage auch bei Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ bei der Ruhrtriennale und Höllers „Der Meister und Maragrita“ an der Hamburgischen Staatsoper: allesamt ähnlich anspruchsvolle Brocken des neuen Musiktheaters. So viel Neues war selten – und das Opernpublikum jubelt darüber!