Foto: Matthias Klink (Gustav von Achenbach) und Mitglieder des Staatsopernchores in Demis Volpis choreographischer Operninszenierung von Benjamin Brittens "Der Tod in Venedig" © Oper Stuttgart
Text:Vesna Mlakar, am 8. Mai 2017
Demis Volpi hat Benjamin Brittens Oper „Der Tod in Venedig“ in Szene gesetzt – als Koproduktion der Oper Stuttgart mit dem Stuttgarter Ballett. Vesna Mlakar war für uns bei der Premiere
So deutlich mehrdeutig zu bleiben, ist hohe Regie-Kunst. Demis Volpi, Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, gelingt bei seiner erst zweiten Operninszenierung gleich ein Paradigmenwechsel: Er hat Benjamin Brittens letztes Bühnenwerk „Der Tod in Venedig“? vom Nimbus der bloßen Coming-Out-Oper befreit, ohne die darin verankerten homoerotischen oder – in diesem Fall – eher pädophilen Aspekte der Geschichte einfach beiseite zu schieben.
Geglückt mag ihm das sein, weil er es meisterhaft versteht, ins Innere seiner Figuren vorzudringen, sich dabei aber einer ethisch-moralischen Wertung zu enthalten. Für ältere Vertreter der Inszenierungszunft war das Aufbrechen gesellschaftlicher Klischees bei der Auseinandersetzung mit Thomas Manns 1973 orchestral überaus eindrücklich vertonter Novelle zumeist obligatorisch. Als junger Theatermensch, der unlängst noch selbst als Tänzer auf der Bühne stand, interessiert Volpi dagegen vor allem, was in der Hauptfigur Gustav von Aschenbach vorgeht.
In symbolhaft reduzierten, atmosphärisch dichten Handlungsorten und surreal starken Bildern seiner langjährigen Ausstattungspartnerin Katharina Schlipf legt er folgerichtig von Aschenbachs aufgewühlte Psyche frei. Die Mittel des szenischen Zugriffs sind vielfältig. Sie umfassen eine Drehbühne, hohe mobile Plexiglaswände, Transparent- und Spiegeleffekte sowie Lichtstimmungen (Reinhard Traub), die den Charakter der unterschiedlichen Situationen –? ob quasi real oder Traumsequenz – unterstreichen. Wechselt der Schauplatz oder verändert sich Aschenbachs Gemütszustand, gerät nicht zwingend der Interpret, sondern vielmehr das Personenarsenal seiner Umgebung, ja sogar ein Großteil des Raums in Bewegung.
Hinter einer prollig-schrillen Reisegruppe, deren Schals den Schriftzug „The Games of Apollon“? tragen, knautschen sich die fahrbaren Elemente zu grauen Flughafenkorridoren. Sowohl Volpi als auch Schlipf sind wunderbare Beobachter. Sie haben ihre Interpretation der dreistündigen Oper (inklusive Pause) sehr clever und originell mit zahlreichen, hintergründigen, zeitgeistigen bis hin zu ironischen Details gespickt. Dass Apollon auf einer überdimensionalen rosa Lotusblüte zu Shiva mutiert, ist der Kitschästhetik des schwulen Künstlerpaars Pierre et Gilles geschuldet. David Moore, Erster Solist des Stuttgarter Balletts, personifiziert die goldene Götterstatue superathletisch – in dynamisch miteinander verbundenen Posen und einem ausdruckslos-stilisierten, archaischen und hieratischen Schrittvokabular. Die verführerisch helle Stimme dazu schickt ihm Countertenor Jake Arditti aus dem Orchestergraben – inklusive einiger Surround-Klänge hinein in den Saal.
Weitergedreht haften an den himmelhohen Wänden Steinstufen. Sie führen mal zu Kanälen, über die Gäste in Kofferwägen mit Messinggestänge gondeln, mal in eine Arena. Dort wuchern dann auf den Treppen überall Bücher, die Kinder anstelle von Sandburgen zu Buchsäulen auftürmen. Kein Perspektivwechsel passiert unbegründet oder allein irgendwelcher Effekte wegen. Deshalb wirkt logisch und treffend, was bei diesem schonungslosen Kopftheater alles so passiert. Und sei es die radikale Entzauberung kurz vor Schluss, wenn Bariton Georg Nigl dem Idol die Goldfarbe vom Körper wischt. Aschenbach ist da bereits halbtot.
Über 70 Akteure – Gesangssolisten, Chor, Tänzer und Schüler der John Cranko Schule, die Volpi allesamt zu Höchstleistungen motiviert – schaffen es, Aschenbachs introspektive Gedanken anschaulich zu machen. Und die wirbeln im letzten Stadium seines Lebens voll unterdrückter Leidenschaft und unausgelebter Sehnsüchte noch einmal mächtig zwischen apollinischen und dionysischen Weltkonzepten hin und her. Maßgeblich angestachelt durch die Begegnung mit einem anmutigen Knaben. Volpi hat die Tanzpartie des stummen Tadzio mit dem hellhäutigen Brasilianer Gabriel Figueredo besetzt. Einem extrem langbeinigen, überflexiblen 16-jährigen Ballettstudenten, der seines Charismas und seiner phänomenalen physischen Anlagen wegen bereits in der Pause als „der nächste Malakhov“? gehandelt wird. In den rein choreographisch ausgearbeiteten Wettspielen der Beach-Boy-Clique Ende des 1. Akts besiegt Tadzio seine Konkurrenten, weil Apollo – Tadzios überirdisch überhöhtes, männliches Pendant und Vorbild/Trainer der jungen Sportler –? ihm beherzt unter die Arme greift.
Ob Aschenbach tatsächlich nach Venedig reist, bleibt hier letztlich offen. Auf mediterranes Flair, Touristen verschiedenster Nationalitäten, die durch das Gassenlabyrinth der Lagunenstadt irren, oder Schreckensbilder der Cholera wird aber nicht verzichtet. Im Gegenteil. Volpis grandiose Umdeutung zur Innenschau mit ihren wohl platzierten und -dosierten Tanzpassagen auf höchstem Niveau lässt das Publikum jeden Eindruck durch die Augen Aschenbachs erleben. Ein erfolgsverwöhnter Meisterdichter, der tief in einer mentalen Krise steckt. Diese hält ihn ohne Verschnaufpause auf Trab, so wie Kirill Karabits die formidabel aufgelegten Musiker am Pult des Staatsorchesters Stuttgart. Kein Wunder, dass es Volpi gefiel, immer wieder auch Klänge aus dem Graben direkt in das Handeln seiner Protagonisten auf der Bühne einzubeziehen. So hauen Aschenbach oder sein souveräner, mephistophelischer Gegenspieler Georg Nigl, der zweitweise falsettierend gleich in sieben verschiedenen Rollenprofilen glänzt, bisweilen scheinbar kräftig in die Tasten eines Keyboards.
Den finalen Applaussturm bei der Premiere am 7. Mai im Stuttgarter Opernhaus entfacht jedoch Matthias Klink (seit 2014 wieder fest im Stuttgarter Ensemble). Für sein Aschenbach-Debüt gibt der Sängerinterpret einfach alles. Hinreißend berührend: das väterliche Verhacken ins Gefüge der polnischen Familie sowie ein kurzes tänzerisches Duett mit Tadzio! Seine Grundstimmung: kreativ ausgepowert, seelisch ein Wrack. Noch bevor er zwischen Stapeln von Büchern auftaucht, setzt seine Stimme missvergnügt zu heftiger Selbstbestätigung an. Ein solcher tenoraler Sprechgesang sprengt Bewertungskategorien wie „schön“ oder „wohlklingend“. Klink agiert verzweifelt-kraftvoll mit seinem Organ, während Aschenbachs Worte ewig ums eigene Ego und Rechtfertigungen kreisen.
Rasch wurde klar: Die Figur, der Matthias Klink gesanglich wie szenisch unglaubliche Darstellungsintensität und Präsenz verleiht, sucht Wahrheit. Doch dafür ist es zu spät. Aschenbachs Leben neigt sich dem Ende zu. Nur seiner Seele ist eine imaginative Rückblende erlaubt. Als einziger Ausweg bleibt der Tod.