Foto: „Vesper”, ein Tanztheaterstück von Nicki Liszta © Alex Wunsch
Text:Manfred Jahnke, am 10. März 2019
Als Rezensent wünscht man sich manchmal klammheimlich, nicht in einer Premiere zu sitzen. Zumal in einer für sehr junges Publikum. Denn da gibt‘s bestimmte Rituale: Erzieher wie Lehrerinnen behandeln einen Theaterbesuch gerne wie einen Schulausflug; da muss man unbedingt vorher im Foyer die Frühstücksdosen auspacken, picknicken, sich streiten und balgen. Weil in der Premiere von Nicki Lisztas neuem Stück aber mehr Erwachsene als Kinder sitzen, simuliert das Theater die Situation: Am Ende des Abends kreisen im Jungen Ensemble Stuttgart Schüsseln mit Karottenscheiben und Apfelschnitzen, auch Erdbeeren. Während das Publikum speist, singen die beiden Darsteller Franziska Schmitz und Kelvin Kilonzo ein Lied davon, wie viele Menschen in dieser Welt „Schimmelbrot“ essen müssen, und postulieren: „Ich will lieber mit dir teilen / Und die Welt ein bisschen heilen.“
Was da ein bisschen stark nach Goodwill klingt, ist in dieser Inszenierung durchaus politisch fundiert. Für Menschen ab vier Jahren wird vom Hunger in der Welt erzählt, in einfachen wie grandiosen Bildern. Die Choreografin Nicki Liszta, die erstmalig eine Produktion für Kinder erarbeitet hat, bleibt den Prinzipien ihrer Gruppe backsteinhaus produktion treu: Szenografie, Bewegungsmaterial und Aussagen werden zu politischen Grundfragen, die die Zukunft der Welt betreffen, schließlich zu einem Statement zusammengeführt. Auf einer ganz weißen Bühne mit Tanzboden sind Aushänge (Bühnenbild: Nina Malotta) zu sehen, in die ein Schlauch hineinragt, der sich später als Speiseröhre erweist; zwei merkwürdige kugelförmige Objekte mit unterschiedlichen Ausstülpungen rechts und links verfremden das Spiel und machen es zugleich real.
Aber das Spiel beginnt zunächst vor einem Vorhang. Kilonzo schiebt einen merkwürdigen Wagen herein, vergießt farbige Flüssigkeiten, die erst auf seinen Körper und dann auf den Vorhang projiziert werden, die dann immer mehr die Form von Fleisch annehmen, was bei seiner Partnerin Schmitz zu Würggeräuschen führt. Heiko Giering hat dazu aus unterschiedlichen Geräuschen eine spannende Tonkulisse geschaffen; überhaupt nehmen seine Kompositionen und die Videos von Christopher Bühler in dieser Inszenierung einen großen Raum ein. Als sich der Vorhang öffnet, beginnt das große Fressen, man stopft sich voll, aber teilen? Nein, die beiden Darstellertänzer rollen, obwohl sie so vollgestopft sind, über den Boden, bekämpfen sich, selbst als sie in den großen Ballons, symbolhaft für die Fettleibigkeit, eingeklemmt sind. Bis endlich die Polizei einschreitet. Bauchschmerzen gibt es auch. Nicki Liszta entwickelt ihre Choreografie präzise aus der contact improvisation, insbesondere die Kampfchoreografien sind bodenbehaftet und Kilonzo und Schmitz verhaken sich immer wieder am Boden.
Wenn dann am Ende Kilonzo feststellt, dass man wohl alles „versemmelt“ hätte, weil er alles behalten und nicht mit Schmitz teilen wollte, übergibt er gleichsam die Verantwortung, es besser zu machen, an das junge und auch nicht so junge Publikum. Es entspricht einer treffenden Ironie, dass im Hintergrund ein Video mit einem Jungen läuft, der ständig Sachen in sich hineinstopft. Obwohl Liszta keinen Moment davon abweicht, wie sie für ein erwachsenes Publikum arbeitet, erreicht sie das Kinderpublikum total. Wenn nun auch niemand an den Kapitalismus, der an der Ungleichheit in der Welt verbissen arbeitet, rüttelt; die Bilder, die Liszta schafft, sind in ihrer Einfachheit so eindringlich wie niederschmetternd, weil die große Politik sich schon in den alltäglichen Vorgängen, die im Kindergarten zu beobachten sind, widerspiegelt.