Gewesenes Leben mit stählerner Rückwand
Die Bühne verströmt gewesenes Leben und Verkommenheit. Ein altes Theaterlager, ein Ex-Zirkus, ein ehemaliger Vergnügungspark, ein Beckett-Raum mit bedrohlich-stählerner Rückwand, in dem die ungeheuer erfindungsreichen Kostüme von Anja Rabes fast schmerzhaft bunte Farbtupfer sind. Drei junge Frauen (wunderbar aufeinander abgestimmte Rheintöchter: Tamara Banjesevic, Ida Ränzlöv und Aytaj Shikhalizade) aus offenbar solventem Hause wollen sich hier zu ihrem Vergnügen einen Clochard zähmen, ein wenig ihre gesellschaftliche Überlegenheit sadistisch genießen, ein bisschen „My fair Lady“ mit umgedrehten Gender- und Generationenvorzeichen spielen und dabei ihre Sozialkompetenz verbessern. Wir wissen, dass es schief geht. Aber die Mädchen geben hier nicht auf, betrachten immer wieder die Handlung, um zu lernen.
Wotan kommt, ein durch extreme Dekadenz träge gewordener Hochstapler, der sich zum heruntergekommenen Zirkusdirektor stilisiert und seine Frau vernachlässigt, was auch diese herabkommen lässt. Rachael Wilson singt Fricka wunderbar unprätentiös sehnig, artikuliert bestechend und berührt. Weil dieser Regisseur jedem Charakter eine Chance gibt, keinen verurteilt. Auch nicht Donner und Froh, die naiv und fröhlich auf ihren Go-Karts herumgurken (Pawel Konik und Moritz Kallenberg, wunderbar locker in Spiel und Gesang); oder Fasolt (David Steffens) und Fafner (Adam Palka), eine lustige Mischungen aus Offizier, Schützenkönig und Frankensteins Monster auf Kothurnen, grandios und genau gesungen.
Suche nach Utopien
Nach und nach glaubt man, zu verstehen: Kimmig und sein Team suchen zwischen all dieser Gier, dieser Selbstsucht, diesem Imponiergehabe nach etwas Gutem, nach Hoffnung, nach Empathie, nach Utopie – nach einem Neubeginn. Den finden sie im Schlussbild, wofür Erda gleichsam das Fundament liefert. Stine Marie Fischer kommt mit einem grünen Fahrrad auf die Bühne und singt so empathisch, musikalisch und vor allem unmütterlich, dass wir uns sofort gemeint führen. Als dann der Einzug der Götter nach Walhall aus dem Graben dröhnt, kommen die Rheintöchter mit einem Plakat, auf dem steht: „Lasst alle Feigheit fahren!“, vermutlich eine umdeutende Entlehnung aus dem „Inferno“ in Dantes „Göttlicher Komödie“, wo es eher um Hoffnungslosigkeit geht. Erda kommt und hält ein Schild hoch, auf dem „Now!“ steht und Fricka verteilt gelbe Regenmäntel, die alle anziehen bis auf den zerstört abtaumelnden Loge und den sich verweigernden Donner, der vermutlich ahnt, dass der Aufbruch in eine neue Zeit immer den Verlust von Privilegien bedeutet.
Dieser Aufruf zum Nachhaltigkeits-Aktivismus mag etwas plakativ geraten sein, aber er wird differenziert und vital auf die Bühne gebracht. Wir glauben das Anliegen. Auch wenn wir immer mal wieder Zitate, Anspielungen, Behauptungen nicht verstehen. Warum ist ausgerechnet Mime (Klasse: Elmar Gilbertsson) der Clown? Warum zieht Wotan kurz vor Schluss die Hose aus? „Konzept allein ist relativ uninteressant. Nur das Leben, das Erleben, ist interessant.“, schreibt Stephan Kimmig im Programmheft. Und diese Inszenierung kann, will erlebt werden, und ist ein großartiger Impuls in die Musiktheaterlandschaft!
Musikalisches Ungleichgewicht
Wenn man das doch auch von Cornelius Meisters Dirigat sagen könnte! Da ist kein Konzept zu hören – und leider auch wenig Leben. Das Blech dominiert so stark, dass einem Unsicherheiten der Hörner geradezu ins Ohr springen. Der Streicherklang erscheint über weite Strecken marginalisiert. Das Stück wird zu einer Kette nicht immer schöner Momente. Und Meister denkt offensichtlich sinfonisch, nicht dramatisch. So scheint die höchst ungewöhnliche Besetzung der drei Hauptpartien keinerlei Einfluss auf seine Klangvorstellungen ausgeübt zu haben.
Wotan ist Goran Juric, ein toller Schauspieler, dem die Regie vor allem Ruhe, Trägheit und Konzentration abverlangt. Musikalisch ist Wotan eine absolute Grenzpartie für ihn. Im unteren Bereich drückt er, um majestätisch zu klingen, die Stimme etwas zusammen, da diese nicht über einen heldenbaritonalen Kern verfügt. Und die Höhe ist unter Druck etwas stumpf. Leigh Melrose, der Alberich, könnte sogar als Schauspieler sein Geld verdienen. Er hat Charme, ist fast ein Akrobat, singt sogar mit dem Kopf nach unten an der vertikalen Messerwerferscheibe hängend. Und er entwickelt alles vom Sinn und Subtext des Librettos her. Auf der anderen Seite trägt sein Piano kaum und im Mezzoforte fehlt schon mal ein Ton. Aber er fesselt das Publikum und erfindet eine liebenswerte Figur.
Bleibt Matthias Klink als Loge: Was für ein Sängerdarsteller! Jeder Ton, jede Silbe, jede Note ist untersucht, abgeklopft auf Sinn und die Möglichkeit einen Charakter zu formen. Rhythmisch und melodisch nimmt Klink sich Freiheiten (auch auf diese reagiert der Graben nicht, zumindest nicht so, dass man es hören kann). Bereits sein Auftritt fesselt, schwarz gekleidet, mit einer merkwürdigen Pressluftflasche in der Hand. Erste Idee: Der Regisseur hat sich selbst als jungen Mann abgebildet, als desillusionierte Selbstparodie. Die Frisur scheint darauf hinzudeuten. Tatsächlicher Bildspender war aber wohl der von Javier Bardem gespielte Mörder mit dem Bolzenschussgerät im Film „No country for old men“. So führen Zitate und Anspielungen in die Irre, öffnen die Phantasie – und sorgen dafür, dass man dabeibleibt. Ein schönes, lebendiges Rätsel.
Am Ende kam es, wie es kommen musste: zu recht Jubel für das größtenteils hauseigene Ensemble, frenetischer Jubel für Dirigent und Orchester, genauso frenetische Buhs für den Regisseur. Dabei hat das Haus zumindest am Beginn bereits eingelöst, was es mit diesem „Ring“-Projekt verspricht: Andere Sichtweisen, die auch für Menschen attraktiv sind, denen die Schwelle ins Opernhaus eigentlich zu hoch ist. Aktionen in der Stadt wird es geben, Diskussionen und Ausstellungen, von denen die erste, „Winter-Bayreuth“ über Wieland Wagners Arbeit in Stuttgart, gerade eröffnet wurde. Und die „Walküre“ wird im April aktweise von drei Performance-Teams inszeniert. Vermutlich wieder mit Buh-Potenzial.