Foto: Burkhard Fritz als Paul zu Beginn des zweitenTteils von "Die tote Stadt" © Paul Leclaire/Oper Köln
Text:Andreas Falentin, am 4. Dezember 2020
Das Folgende ist unter Vorbehalt zu lesen, genau genommen: unter zwei Vorbehalten. Zum einen ist diese „tote Stadt“, die genau hundert Jahre nach ihrer Uraufführung in derselben Stadt Premiere feierte, für die Bühne konzipiert. Da zurzeit aus bekannten Gründen nicht vor Publikum gespielt werden kann, bleibt nur der Film, der Live-Stream. Diesen erprobte die Kölner Oper vor drei Tagen mit George Benjamins „Written on Skin“ erstmals, allerdings in Form einer vorproduzierten Aufzeichnung. „Die tote Stadt“ war live im engeren Sinne, was man hören und fühlen konnte. Was gut war. Aber die Technik grätschte ein wenig dazwischen: Der Stream blieb immer wieder mal hängen, so dass dem Rezensenten hier und da Minuten fehlen, die nicht in diesen Text einfließen können.
Und auch der Eindruck von der Musik ist sicher nicht mit dem zu vergleichen, was im Raum des Staatenhauses zu hören war. In der sehr langen Pause – es gab vorproduzierte Reden und Gespräche zu erleben, in denen, wie seit Anbeginn aller Opernübertragungen, Stück, Komponist, Mitwirkende und Umfeld ausführlich gepriesen wuirden – sprach auch der Dirigent Gabriel Feltz sehr glaubhaft von seiner Kenntnis von und Faszination durch Korngolds Musik. Von dem von ihm beschriebenen Farbenreichtum war jedoch an Bildschirm und Lautsprecher wenig zu erleben. Wohl hörte man Präzision und Struktur, das Schürfen nach Kraft und Substanz dieser Musik, nicht aber den Umgang mit deren Wirkungsmacht – kein Parfum, keine aufrauschende Sinnlichkeit, keine lustvollen Annäherungen an Kitsch aller Art, keine pastellenen Traumwelten. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass all das durch die Übertragung und Aussteuerung verloren gegangen ist, weswegen über das sehr genau spielende Gürzenich Orchester auch nicht mehr gesagt werden kann als genau dieses.
Auch das Erleben des Sologesangs stand an diesem Abend zunächst im Zeichen der Technik. Der Tenor von Burkhard Fritz war gerade zu Beginn hörbar unausgeglichen ausgesteuert, klang mal topfig, mal dumpf, dann wieder frei, so dass man Zeit brauchte, sich in seine Stimme einzuhören. Das gelang im ersten großen Monolog („Du weißt, dass ich in Brügge blieb…“), den Fritz selten differenziert und mühelos sang. Auch Ausrine Stundyte als Marie, Fritz‘ tote Frau, und Marietta, seine neue Bekannte, hatte einen schwierigen Start. Merkwürdig unklar kam die Stimme übers Mikro, der erste Eindruck war dominiert von einem ungleichmäßigen Vibrato und artikulatorischen Problemen mit s-Lauten. Erst nach und nach wurde der Farbreichtum dieser Stimme erlebbar, die der Marietta keine Frische, keine Jugendstil-Eleganz mitgibt, dafür viele Nuancen dunklen Glühens. Wobei, das sei explizit festgestellt, sich Stundyte hier nicht nur als hochdramatischer Ausdrucksstar in der Nachfolge von Evelyn Herlitzius profiliert, sondern auch als kluge, leidenschaftliche Musikerin.
Einen ungewöhnlichen Raum hat Stefan Heyne entworfen, einen sich häufig drehenden, von Fadenvorhängen strukturierten Teller, der von einem kreisrunden Bartresen begrenzt wird. Hier lebt Paul in einer Paradox-Situation: gleichzeitig zurückgezogen und für jeden sichtbar. Wer ist dieser Kerl, der ein Sakko über weißem Unterhemd trägt und barfuß geht? Was ist mit dem bloß los? Zu Beginn setzt uns die Regisseurin Tatjana Gürbaca listig auf eine falsche Spur. Da malt Paul sich eine rote Brustwarze (oder eine Herzwunde) aufs Unterhemd und trägt Lippenstift auf. Dann tritt die Frau auf, sie kurzhaarig, er mit Künstlermähne (in der Pause erfahren wir, dass es sich um die Originalfrisuren handelt). Wird das also ein Abend der Gender-Aspekte? Werden Rollenbilder in Frage gestellt, gar eingerissen oder vertauscht?
Eine charmante Sackgasse. Tatsächlich erzählt Gürbaca den Abend über eine Thrillerstruktur. Dafür trifft sie Entscheidungen, holt vieles, nicht alles aus der in Korngolds Oper vorherrschenden Schwebe. Eigentlich durchdringen sich hier ständig Realität, Einbildung und Traum. Bei Gürbaca ist Marietta, vermutlich, Maries Zwilling. Was auch die optische Ähnlichkeit erklärt. Sie sucht nach ihrer verschwundenen Schwester, findet heraus, dass Paul diese ermordet hat und fällt ihm selbst zum Opfer. Und Paul bringt sich um. Das wird stringent erzählt, auch durch die Nebenfiguren. Wolfgang Stefan Schwaiger etwa schmilzt den Freund Frank und den Pierrot Fritz aus der Theatertruppe, der ihm stimmlich mehr liegt, zusammen, Durch seinen schlanken Bariton-Gesang und sein gradliniges Spiel wird er zu einer glaubhaften Gegenfigur zu Paul. Noch stärker: Dalia Schaechter als Haushälterin Brigitta mit wunderbar konzentriert geführtem Mezzosopran. Ihr Kostüm spielt auf Mrs. Danvers an, die fieseHaushälterin in Hitchcocks Film „Rebecca“ von 1939, die an der verstorbenen Frau ihres Dienstherrn so sehr hängt, dass sie der Nachfolgerin, fast im Wortsinn, die Hölle heiß macht. Dalia Schaechters Miene erzählt von Wut und Treue, Bigotterie und Engstirnigkeit, die aus Einsamkeit entstanden sind und durch diese verstärkt werden. Durch diese wissende Haltung wird sie fast zur Vermittlerin, zur Hinweisgeberin für das Publikum.
Natürlich ziehen sich diese drei Stunden Oper am Bildschirm dann und wann. Es fehlt der unverstärkte Klang von Stimmen und Musik im Raum, das klingende Umarmtwerden, dem man nicht entkommen kann. Dazu befinden sich die Übertitel, nicht über oder unter, sondern mitten im Bild. Denen entkommt man kaum. Man liest, was man sonst gern überhört, wenn man gepackt ist von Szene und Klang. Beispiel gefällig? „Mein Haar stirbt nicht, es wacht in deinem Haus“. Vieles ist hier „Frenesie“ (Raserei). Dazu kommen Details, die man nicht einordnen kann: Das Herumschmieren mit Farbe, die vielen Kostüme von Marietta, die vielen Bühnenzigaretten…
Wenn wir 10, 30, 50 Meter von der Bühne entfernt im Theater sitzen, brauchen wir die Zeichenhaftigkeit, die Überhöhung, das Künstliche, auch den bewussten Umgang mit Klischees All das gehört dazu zur Oper. Der Medientransfer macht jedoch vieles obsolet. Im Film sind wir immer nah dran, sehen, was wie gemacht ist und brauchen es dann nicht mehr, sehen, wo die Farbe herkommt, bevor sie ins Gesicht geschmiert wird, sehen sogar, dass die tote Marietta, dass die schöne Frauenleiche, die im Schlussbild auf dem Bühnen-Präsentierteller liegt, atmet. Und wundern uns.
Diese „tote Stadt“ ist, wie gesagt, eine hochrespektable Aufführung. Das Ensemble führt uns kraftvoll durch die von der Regisseurin definierte, zugespitzte Geschichte. Tatjana Gürbaca gelingt nicht nur die Erzählung, vor allem schafft sie es, die vielen maßlosen, leidenschaftlichen, absurden Entäußerungen der beiden Hauptfiguren auf einen menschlichen Kern zurückzubinden. Ob ihre Inszenierung mehr ist als das Beschriebene, wird man erleben können, wenn man ihr irgendwann im Theatersaal begegnen kann.