Foto: Das JES-Ensemble widmet sich der Sehnsucht nach Nähe kurz vor dem zweiten Corona-Lockdown. © Alex Wunsch
Text:Manfred Jahnke, am 1. November 2020
Was haben wir für Vorstellungen vom „Paradies“? Ist es die Nähe zu einem anderen Menschen? Ist es der Flow, der beim ersten Singen eines eigenen Songs auf der Bühne entsteht? Ist es Rapunzel, die in ihrer Abgeschiedenheit vor Sehnsucht nach einem anderen Menschen ihre Haare aus dem Turm herablässt? Oder ist es nur dort zu finden, wo Adam und Eva sich noch nicht von der Schlange betören ließen und mit dem Biss in den Apfel die Scham entdeckten? Diese und ähnliche Fragen stellen sich zwei Schauspieler, zwei Tänzer, zwei Jugendliche, zwei Kinder und eine Musikerin in der Ensembleproduktion „Paradies“ im Jungen Ensemble Stuttgart. Ihr Befund am Ende ist: „Schön, Dich zu sehen“, das singt Marie-Christin Sommer voller Power. Es sind die kleinen Gesten, die kleinen Begegnungen, die diese Welt in ein Paradies verwandeln.
Nach vier gemeinsamen erfolgreichen Produktionen ist „Paradies“ wohl eine der letzten gemeinsamen Arbeiten der 2022 aus dem Amt scheidenden Intendantin und Regisseurin Brigitte Dethier und dem belgischen Tänzer und Choreografen Ives Thuwis-de Leeuw in Stuttgart. In der dramaturgischen Grundstruktur sind diese fünf Produktionen ähnlich konzipiert: Zu einem Thema entwickelt ein aus Profis und Laien bestehendes Ensemble biografisches Material, das sich dann ins Mythische und Gesellschaftliche assoziativ weitet, dabei aber immer Leerräume für die Fantasie des Publikums lässt. Authentizität und Fiktion verschwimmen noch mehr, wenn sich die Musikerin einmischt oder das Ensemble von seinen Stühlen aufsteht: Die zunächst verhaltenen Bewegungen der Arme und der Oberkörper werden zunehmend kraftvoller, bis dann im rasanten Power-Tanz die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit zum Ausdruck kommt. Das Bild wird gebrochen durch die Masken, die das Ensemble bei jeder körperlich-tänzerischen Aktion aufsetzt; es wird deutlich, wie nah und fern man zugleich vom Paradies ist.
Wolfram Stöckl hat für diese Produktion eine Bühne geschaffen, in der rechts und links zwei offene Würfel aus weißen Stäben stehen, rechts nach vorne mit zusätzlichen Streifen und einem kleinen Desinfektionsgerät. In der Mitte hinten steht ein weiterer derartiger Kubus, in dem die Musikerin Marie-Christin Sommer agiert. Daneben, nach vorne wieder mit weißen Streifen versehen, eine Wand, durch die man zu Beginn auftritt. Vor sieben Stühlen gibt es sieben Mikrofone, in die hinein die Mitwirkenden ihre Geschichten erzählen. Gleich zu Beginn, wenn alle anderen Spieler auf ihren Stühlen sitzen, überquert ein Mädchen, Josefine Pagan, mit einer großen Tasche die Bühne. Nachdem sie den linken Würfel erreicht hat, schüttet sie diese aus. Lauter bunte Bänder fallen heraus, die sie während der Vorstellung um die Stäbe wickelt. Einmal verschwindet sie auch selbst in der Tasche oder notiert etwas in ein großes Heft. Am Schluss holt sie eine Hängematte hervor und schaukelt dann, dabei genüsslich einen Apfel verspeisend.
So findet die Regie so einfache wie eindringliche Bilder für die Isolation eines Kindes, das sich scheinbar selbst in seine bunte Welt einschließt. Als Parallelhandlung wird diese Ebene zu einem wortlosen Kommentar dessen, was das Ensemble mit hohem Spieltempo an Geschichten und Tanz über die Bühne bringt. Die Texte sind zwar meist monologisch angelegt, aber teils werden sie zu einem schnellen dialogischen Ping-Pong-Spiel, das insbesondere Anna-Lena Hitzfeld und Faris Yüzbaşioğlu beeindruckend gut getimt beherrschen. Khadidiatou Bangoura überzeugt mit ihrer starken körperlichen Präsenz, wie auch Lin Verleger. Adrian Becker, Kaspar Kaaden und vor allem die elfjährige Yuna-Malou Mugei prägen dieses Ensemble, aus dem Marie-Christin Sommer als Musikerin und Schauspielerin herausragt. Sie hat mit der Ausnahme von zwei Songs – „Paradise City“ von Gun N‘ Roses und „Tell it to my heart“ von Taylor Dayne – die Musik komponiert, die, maßgeschneidert auf das Ensemble, mit Punkpower und lyrischen Momenten den Drive für die tänzerische Bewegung liefert.
In der Interimszeit zwischen den Lockdowns habe ich keine Produktion auf der Bühne gesehen, die so sinnlich das spiegelt, was den Menschen in der Corona-Zeit widerfährt. Und das nicht nur durch die Masken, die bei der körperlichen Verausgabung getragen werden, sondern mehr noch durch die Geschichten, die von der Sehnsucht nach Nähe geprägt sind, die Sehnsucht nach dem Kuscheln, nach Berührung. Da macht die Inszenierung von Brigitte Dethier und Ives Thuwis-de Leeuw einerseits traurig und lässt andererseits darauf hoffen, dass dieses Paradies uns nicht dauerhaft verloren geht!