Alle Episoden des Bühnenwerks fokussieren aus dem Zusammenhang fallende Menschen. Radikal erschütternde Erfahrungen sind zumeist Auslöser, auf dass die Fassaden des Alltags zerbrechen. Oder genauer: Sie lassen die Figuren endlich bemerken, dass ihr Platz in der Welt längst höchst fragwürdig geworden und das menschliche Treiben aus den Fugen geraten ist. Die Bühne Anna Bergemanns bietet daher auch keinen abgesicherten Raum, sondern nur das Gerippe eines Black Cube. Jede Figur ist so nicht in ihrer kleinen Welt gefangen, kann hinausschauen und -gehen. Meist wird das Personal für die Szenenwechsel aber einfach durch eine händisch gedrehte Trennwand hinausgeschoben: klassisch analoge Überblendungstechnik.
Regisseur Dariusch Yazdkhasti animiert das 11-köpfige Ensemble der Premiere zu differenzierter Zeichnung des zutiefst beschädigten Personals. Es betont die rhythmisch akzentuierte Musikalität des Textes, stellt sie aber nicht artifiziell aus, sondern vitalisiert die darunter verborgene Emotionalität. Gleich zu Beginn wird hochenergetisch durchgestartet. Zu sehen ist das rasende Entsetzen zweier Schuldeneintreiber. Sie berichten, dass ihr Opfer auf der Flucht vor einen Bus lief, der auswich und in eine Menschenmenge schlingerte. Am Steuer saß, wie später klar wird, die Taxifahrerin des Blinden. Ganz anders den Boden unter den Füßen verliert ein Vater, der bei einer Wanderung mit seinen Liebesten einen herabstürzenden Felsblock erblickt und panisch flieht. Aber reflexartig nur sich selbst in Sicherheit bringt. Während die Mutter die Kinder retten muss. Was einen giftigen Ehedisput zur Folge hat. Exakt so, nur mit einer Schnee- statt Gerölllawine, hat das bereits der Film „Höhere Gewalt“ (2014) des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund erzählt. Dort wie nun bei Busch zerfällt das Selbstbild eines Mannes, statt superstark, beschützend und mutig steht er schuldig da und eiert mit Rechtfertigungsversuchen herum. Gleichzeitig wird deutlich, das Familienleben funktionierte schon seit Langem nur äußerlich noch reibungslos. Das Private bietet keine Zuflucht mehr. Als wäre das nicht schon schlimm genug, erklärt ein Vater in der folgenden Szene seiner Tochter ausgerechnet am Tag vor ihrer Hochzeit, dass er nicht ihr Vater und sie ein adoptiertes Waisenkind sei. Wenig später genießt ein jung-naiver Angestellter im Rausch seiner ersten Dienstreise Sex auf Spesen – und kommt als Aidskranker heim. Schon weiß auch er nicht mehr, wer er ist, noch was er eigentlich will.
Etwas freundlicher zaubert Busch auch die Dokumentarfilmerin aus „Das Recht der Stärkeren“ noch einmal herbei. Eitelkeit und Idealismus vermengen sich erneut ununterscheidbar in ihrem Selbstmarketing als Aufklärerin. Zeigen will sie als Künstlerin, wie mies die Welt funktioniert – braucht aber Unterstützung und fragt recht herablassend um Hilfe bei einer Kollegin nach, die Industriefilme dreht, um finanziell über die Runden zu kommen. Ob beide als Arbeitspartnerinnen oder Freundinnen zusammenkommen, bleibt äußerst fraglich.
Dominik Busch entwirft das Szenario einer Gesellschaft vereinzelt Verlorener. Aber dank der kunstvoll verwobenen Konstruktion voneinander isoliert scheinender, sich aber doch überschneidender Handlungen sind auch alle Beteiligten letztendlich irgendwie miteinander verwoben – das soll vermutlich dem Gefühl des Verlustes sozialer Verbindlichkeiten und einem verstärkten Auseinanderdriften persönlicher Lebenswelten entgegenwirken. Mehrmals wird in den Szenen zudem der verbrannte Obdachlose zitiert, der Liebe sucht und predigt. Ganz sanft funkelt Hoffnung schließlich auch in der Szene eines gedächtnisverlorenen Mannes (Thomas Wehling), der sich jeden Tag neu in seine Frau verliebt. So funktioniert die Uraufführung geradezu schmerzhaft romantisch.