Foto: Tanz-Uraufführung von Andonis Foniadakis © Bettina Stöß
Text:Ulrike Kolter, am 29. Januar 2023
Keine Sekunde, in der nicht Gliedmaßen und Wirbelsäulen neu sich krümmen, biegen und verdrehen zum Wummern der Bässe. Momente der Stille sind spärlich – und fast schon ersehnte Einschnitte in diese 70-minütige Uraufführung des griechischen Choreografen Andonis Foniadakis, der mit „Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως“ seine erste abendfüllende Kreation in Deutschland zeigt.
Der dreiteilige Titel aus Deutsch, Englisch und der Muttersprache des Choreografen (in diesem Fall Griechisch) ist Konzept des kuratorischen Modells am Staatstheater Kassel, bei dem Tanzdirektor Thorsten Teubl diverse internationale Stile präsentieren kann statt nur die Handschrift eines Hauschoreografen. „Wir glauben an Tanz als kuratorische Strategie und als ein System der Diversität, ohne eurozentrischen Fokus und ohne althergebrachte hierarchische Führungsmodelle“, erklären Teubl und sein Team, was die Mitglieder von TANZ_KASSEL als Mitschöpfer:innen ausdrücklich inkludiert.
Technik, Präzision, Kondition
Die sind bei Andonis Foniadakis extrem gefordert; das Fundament seiner klassischen Ballettausbildung kombiniert er in einer Art und Weise mit zeitgenössischem Tanz, wie man es kaum zuvor gesehen hat – mit höchstem technischem und konditionellem Anspruch. Foniadakis hat in Athen und Lausanne studiert, war Leiter des Griechischen Nationalballetts, lebt in Frankreich und arbeitet überall auf der Welt. „Urlicht“ ist ein philosophischer Abend, der uns mit dem Anfang und Ende allen Seins konfrontiert, mit der individuellen Suche nach Gemeinschaft, Erkenntnis, Sinn.
Aus vier Tunneln schälen sich im ersten Teil des Abends Urwesen in elastischen Ganzkörperanzügen; nebelumhüllt ist die dunkle Bühne, abwechselnd nur erleuchtet die Tunnel (Bühne und Lightdesign: Sakis Birbilis, Kostüme: Anastasios Tassos Sofroniou). Ein innig verknotetes Paar deutet einen Liebesakt an, nach und nach suchen sich alle aus einem Urzustand der Dunkelheit zu befreien, werfen sich dabei gegenseitig brutal zu Boden, heben einander die Wände empor oder in den Handstand, rennen und kriechen ineinander. Leben oder Überleben lassen: Die Brutalität dieser Gruppenszenerie erschüttert uns Zuschauende ebenso wie die einschneidenden, wummernden Bass-Beats (Sounddesign: Julien Tarride) fast weh tun, die leider überwiegend zu laut übersteuert sind. (Es ist ein bedauerlicher Trend, dass Sound im zeitgenössischen Tanz tendenziell zu laut ist.)
Ein Tisch als Gemeinschaftslabor
Im zweiten Teil dieses ekstatischen Tanz-Rausches schiebt sich von links und rechts ein Tisch aus Neonröhren in der Bühnenmitte zusammen (Licht: Marie-Luise Fieker), herab senkt sich ein schwarzer Kubus; am Schluss wird er alle lebendig unter sich einschließen. Was zuvor bereits Schnelligkeit und Präzision im nur vermeintlichen Chaos war, wird nun noch übertroffen: Alle formieren sich auf diesem Tisch, in Soli, Zweierkonstellationen oder im Ensemble, hinter- und übereinander sitzend, stehend oder sich wie knochenlose Gummiwesen herabrollend. In welcher rhythmischen Synchronizität von links und rechts Tänzer:innen auf dieses grelle Plateau springen, in welchem Tempo auf engstem Raum Drehungen und Hebungen exerziert werden, ist schlicht atemberaubend. Und man fragt sich, wie und ob diese Spezies überhaupt noch zusammen überleben kann, oder will.
Als Kontrapunkt der Ruhe setzt Andonis Foniadakis ein Zitat des Theologen Dietrich Bonhoeffer ans Ende, das als Mantra in Englisch wieder und wieder ertönt: „Das Licht erweckt die Finsternis zum eigenen Sein. (…)“ Der Abend endet so in einem Erschöpfungszustand, der wenig Hoffnung macht, aus der Dunkelheit unseres Daseins herauszufinden. Eine herausragende Kreation, die bleiben wird von einem Choreografen, der hoffentlich noch öfter in Deutschland arbeiten wird.