Foto: "Die Ratten" am Burgtheater © Bernd Uhlig
Text:Joachim Lange, am 28. März 2019
In Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ blickt das Theater in den Abgrund. Es sieht die arg Bedrängten am Rande der Gesellschaft. Und es blickt in den Spiegel seiner Mittel. Gleichzeitig. Da sind Frau John, deren Mann als Maurerpolier in Hamburg arbeitet und ihr Kinderwunsch. Auch gegen die Einsamkeit. Und, um ihr „Adelbertchen“ zu ersetzen, das ihr vor Jahren weggestorben war. Sie ist die Frau im Zentrum, die eigentlich ein großes Herz hat. Die dann aber mit Entschlossenheit und Härte dem Dienstmädchen Pauline Piperkarcka ihr gerade in ihrer Obhut zur Welt gebrachtes Neugeborenes „abnimmt“ und als ihr eigenes ausgibt. Und die, als sich die Mutter besinnt und ihr Kind zurück haben will, ihren labil-kriminellen Bruder Bruno Mechelke mehr oder weniger direkt dazu bringt, das Problem „zu lösen“.
Hauptmann steigt mit diesem Teil der Geschichte der Gesellschaft sozusagen aufs Dach, und durchstöbert auf dem (metaphorischen) Dachboden einer Berliner Mietskaserne die Verhältnisse, in denen vor allem die Frauen die Zeche zahlen. Doch auch in der Gegenwelt hinter der noch aufrecht erhaltenen gutbürgerlichen Fassade, bei Ex-Theaterdirektor Harro Hassenreuther, seiner Frau, der Tochter Walburga und seinen Schülern Käferstein und Erich Spitta ist nichts mehr wirklich in Ordnung. Der Kostümfundus ist eingemottet. Der Direktor kämpft um die Rückkehr auf einen Posten, wenn es sein muss auch im fernen Straßburg. Mit Spitta, dem Freund seiner Tochter, der von der Theologie zur Schauspielerei wechseln will, liefert er sich einen Streit über Anspruch und Ästhetik des Theaters, bei dem auch nach über 100 Jahren noch so viel Funken fliegen, dass etwas Licht in Sache kommt. Spitta behauptet, dass jeder bis hin zur Putzfrau zum Helden eines Dramas werden könne. So wie in Hauptmanns 1911 als Skandal angekommenem Stück.
Dieser Wechsel zwischen Dachboden, Behausung und Wohnetage, also den verschiedenen Lebenswelten, liefert von selbst jene Fallhöhe, die beide im Gegenlicht der jeweils anderen ihre Wirkung entfalten lässt. In Andrea Breths erklärtermaßen letzter Inszenierung am Burgtheater wird die allein dem Text (ohne Hauptmannschen Kunstdialekt) und den Schauspielern zugewiesen. Bewährt das eine, purer Luxus das andere.
Martin Zehetgrubers Bühne ist so beklemmend einfach wie genial. Er hat ein paar diffus durchscheinende, gewellte Stellwänden auf die Drehbühne gestellt und den Boden mit Papier zugemüllt. Ein Haufen Töpfe und Pfannen steuern Lärm bei, wenn die John und Pauline im Kampf um das Kind aufeinander losgehen. Ein paar überlebensgroße Ratten wirken stumm und symbolträchtig vor sich hin. Wenn sich diese Bühne zum Auftakt schnell und zu einem eingespielten Staccato dreht, rennen alle wie die Laborratten im Laufrad. Auf der Suche nach sich selbst. Und einem Funken Glück? Doch es gibt keinen Ausweg. Nirgends. Am Ende, wiederholt sich diese Szene, völlig ausgebremst. Jetzt ist jeder hoffnungslos allein und alles geht Richtung emotionaler Kältetod.
Die sprichwörtliche und vielgepriesene Präzision der Regisseurin Andrea Breth ist natürlich eine Steilvorlage für ihre (Wunsch) Truppe. Mag sein, dass bei Sven Eric Bechtholf als vollmundig im Striese-Stil schwadronierender Hassenreuter auch seine eigene Erfahrung als Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele gelegentlich durchschimmern lässt. Immerhin bewahrt ein sich zügelnder Bechtolf seinen Harro trotz Kabinettstückehrgeiz vor der Knallcharge. Sylvie Rohrer dessen Frau aber nicht vor der überbetroffenen Tragödin. Johanna Wokalek beginnt als Frau John – ohne proletarisches Kunst-Berlinern – in einem kühlen Streit mit Pauline um deren Kind, ist großartig, bleibt aber doch bei der Suche nach der Tragik von Frau John irgendwo auf der Strecke. Am Ende hängt sie mitten auf der Bühne tot über dem Kinderwagen, war bis dahin aber in ihrer Parallelwelt glaubhafter als in ihrer Verzweiflung.
Richtig zu leuchten vermag das Burgtheater-Ensemble von seinen Rändern her. Etwa wenn Nikolaus Ofzarek den Bruno als Psychopaten wie ein gefährliches Riesenbaby auf die Bühne schlurft. Oder wenn Oliver Stokowski als Maurerpolier John immer kurz vor der Explosion seine Lebenshoffnung in der geballten Faust zerrinnen sieht. Christoph Luser übertrumpft als Erich Spitta für Momente mit souveräner Ruhe jede Großschauspielergeste Bechtolfs. So geht das weiter mit den Kurzauftritten von Andre Eckert als Sidonie Knobbe bis zum Hausmeister von Branko Samarovski.
Zweieinhalb pausenlose Stunden Breth-Präzision auf Burgtheaterniveau sind und bleiben ein Solitär. Auch wenn das Ganze – trotz Nähe zu den einzelnen Figuren – auf Distanz bleibt. Als Andrea Breth den freundlichen Schlussapplaus unterbricht, zum Mikrophon greift und sich als Quasi-Hausregisseurin nach fast zwanzig Jahren dankend verabschiedet, klingt das mehr nach einem verletzten „Dann eben Nicht“ in Richtung des designierten Burgchefs Martin Kusej, als nach einem melancholischen Servus.