Foto: Martin Sperrs "Jagdszenen aus Niederbayern" an den Münchner Kammerspielen. Anna Maria Sturm, Christian Löber, Gundi Ellert, Katja Bürkle, Silja Bächli, Michael Tregor © JU/Ostkreuz
Text:Martin Bürkl, am 23. Februar 2015
Ein einziges Wesen gibt es in dieser Inszenierung, das lebendig, fahrig, gehetzt wie ein Tier wirkt: Katja Bürkles androgyner Abram, der gerade ins kleindörfliche Antiidyll zurückgekehrt ist – entlassen aus dem Gefängnis, in dem er als Homosexueller saß. Schwulsein bedeutet 1948, wo alle die zurückliegende NS-Zeit tunlichst vergessen wollen, aber ohne Feindbilder nicht auskommen, am äußersten Rand der Gesellschaft zu stehen.
Doch Jagd wird nicht nur auf Abram gemacht. Außenseiter sind auch die junge Prostituierte Tonka und der Dorftrottel Rovo; ein Junge, bei dem unklar ist, ob er von Geburt an eine Behinderung hat oder sich ein schweres Kriegstrauma auf Verhalten und Sprachzentrum niederschlägt. Und alle anderen sind die Täter? Nein, das wäre viel zu einfach, denn schlussendlich ist hier keine Figur klar gezeichnet. Diffamierung, körperliche Gewalt, öffentliche Demütigung gehören dazu. Auch innerfamiliär. Denn so lange man auf der Leiter nur eine Sprosse weiter oben steht, gibt es schon mindestens einen gemeinsamen Feind mit der Person darüber.
Der Intendant des nur einen Steinwurf entfernten Residenztheaters inszeniert als Gast maximal „unhippes“ Theater. Laut ist es nur sehr selten, die eingespielte Musik erinnert eher an das Sounddesign nichtssagender, pseudobetroffener Fernsehdokumentationen. Es wird nicht getanzt, nicht skandiert, nicht gesungen, vielmehr kommen die Worte in stark gedehntem Zeitlupentempo daher. Es tröpfeln Satzbestandteile ins Publikum, die gelesen ein rasanter Schlagabtausch sind. Manchmal ist in den Pausen das Denken der Figuren fast zu spüren, doch meist entlarven sie die Hohlheit der eingeübten Phrasen.
Alles ist höchst statisch. Jede Szene ist ein fein austariertes Tableau mit Personenkonstellationen zwischen frühem Fassbinder und Westernfilm – abwechselnd vor einer hohen Bretterwand oder einer alten, schlecht verputzten Friedhofsmauer. Manchmal werden die Figuren hin- und hergeschoben, bei Interaktionen zwischen zwei Leuten auch mal wild durcheinandergewirbelt, doch kaum sind mehr Personen auf der Bühne, fallen alle zurück in ihre statische Pose. Hart ausgeleuchtet mit stets nur einem, dafür um so grelleren Lichtkegel, wie Versuchskaninchen in einer klaren Vollmondnacht.
Martin Sperrs Erstlingswerk gehört zu den zentralen Texten des „Neuen Volksstücks“ im Erbe Marie-Luise Fleißers und hatte Mitte der 1960er Jahre gehörige Sprengkraft. 59 Jahre später bringt Kušej den Stoff rückwärts auf die Bühne – Abrams Ende (von der Dorfgemeinschaft erschossen, bei Sperr der Polizei ausgeliefert) wird an den Anfang gesetzt, von hier tastet er sich immer weiter zurück, zu den Beweggründen, die zwei Morden und einem Selbstmord zugrunde liegen.
Rovo wird artikulatorisch als minderbemittelt dargestellt, doch eigentlich argumentiert er am schlüssigsten und bildet nicht weniger korrekte Sätze, als die übrigen Dorfbewohner. Jeff Wilbusch spielt die Behinderung intensiv und zugleich mit Abstand; er heischt nicht um Mitleid, macht die Figur aber auch nicht lächerlich, das ist eine große Leistung! Abgesehen davon haben ohnehin alle eine Sprachstörung.
Bei Kušej ist das Stück keine Tracht Prügel für das Publikum, denn es bietet ihm ausschließlich den distanzierten, analytischen Blick. Das löst langes Grübeln aus, warum diese dermaßen pessimistische Weltsicht nicht mehr Widerstand, mehr Betroffenheit erzeugt. Die Figur, die das am stärksten schmerzende Fähnchen im Wind bleibt, ist Gundi Ellerts Barbara, die Mutter Abrams. Eine Frau, die ihrem schwulen Sohn den Tod an den Hals wünscht, nur um ihre Ruhe im Dorf zu haben. Gebrochen, verzweifelt, gefangen in ihrer Haut wünscht sie sich einen Platz in der Gesellschaft.