Foto: Vermeintlich im Dienst der Verschwörung: Fabian Eyer und Moks-Ensemble © Jörg Landsberg
Text:Martina Burandt, am 4. Oktober 2020
An diesem Abend wird sich alles um Verschwörungserzählungen drehen. Das könnte „CON5P1R4.CY“ in Zeiten von Corona zum ‚Stück der Stunde‘ machen – doch die Stückentwicklung von Konradin Kunze und Ensemble geht dem menschlichen Wunsch, sich das Leben mit seinen Widersprüchen zu erklären, weitaus vielschichtiger auf den Grund.
Über der drehbaren runden Bühne hängen acht unterschiedliche weiße Leinwände wie Segel von der Decke. Darum verteilt sich das Publikum auf vier Tribünen. In den je sechs futuristisch anmutenden Kunststoffstühlen mit den hohen Rückenlehnen sitzt es sich wie in einer kleinen Raumkapsel (Bühne: Léa Dietrich!). Und schon erscheint das vierköpfige Moks-Ensemble in weißplüschigen Schafkostümen, an dessen Kapuzen seitlich die Ohren abstehen. Wie beim Countdown beim Raketenstart zählen Fabian Eyer, Judith Goldberg, Frederik Gora und Anne Sauvageot die Buchstaben und Zahlen des Stücktitels herunter und wenden sich dann direkt an das Publikum, dem sie klarmachen, dass es hier keine Zufälle gibt. „Wir werden euch verführen, wir werden beweisen, wir werden euch Fragen stellen. Alles ist geplant, nichts ist, wie es scheint. Wir werden die Welt in Gut und Böse einteilen und ihr werdet vergessen, dass wir diese blöden Schafkostüme tragen.“
In einer Mischung aus „Alice im Wunderland“ und dem Science Fiction-Film „Matrix“ und ausgehend von den Mythen, die sich um den US-amerikanischen Unternehmer Elon Musk ranken, entwickeln sich vier verschiedene Verschwörungs-Erzählstränge vor den vier Zuschauertribünen. Temporeich mischen sich verschwommene Annahmen und merkwürdige Schlussfolgerungen um Künstliche Intelligenz und unterirdische Tunnelsysteme, in denen Kinder wie Testkaninchen gefangen gehalten oder Menschen Computerchips eingepflanzt werden, um sie gefügig zu machen. Irrwitzige Geschichten, die tatsächlich in unserer Gegenwart kursieren. Dass neben dem Geplapper im Alltag, auf der Straße, im Internet in sozialen Netzwerken, auch im Theater eigene Erzählwelten geschaffen werden, wird zusätzlich schnell klar. Und damit spielt die Inszenierung, wie auch mit den Anleihen bei „Matrix“, in dem der Held Leo mit der Einnahme einer roten Pille „die Wahrheit“ über die Welt erfahren kann. Der Space-Act im Brauhaus des Theater Bremen ist in vollem Gange: Alles ist „mega“, auf den Leinwänden wird gepostet und gegoogelt und die Bühne dreht sich.
Auch unter den weißen Plastikstühlen des Publikums klebt je eine kleine Tüte mit einer roten und blauen Pille. Wofür entscheidest du dich, wird gefragt. „Bist du bereit für die tiefsten Tiefen im Wunderland, für die Wahrheit? Dann nimm die rote. Willst du ein dummes Schlafschaf bleiben, das der jetzigen Wirklichkeit, dieser Scheinwelt traut, nimm die blaue Pille.“ Doch über einen Kopfhörer warnt eine Stimme vor den Tricks der Verschwörer. Auch ein psychologisches Phänomen wie „Kognitive Dissonanz“ wird beschrieben, um menschliches Verhalten im Zusammenhang mit Verschwörungserzählungen klar zu machen. Das wird sehr beispielhaft mit dem Zigarettenkonsum erklärt, der von manchen Menschen, trotz des Wissens um seine schädlichen Auswirkungen, mit Verharmlosungen, Verdrängungen und Realitätsverdrehungen gerechtfertigt wird.
Über die gesamte Stückdauer von 60 Minuten geht das Moks-Ensemble gewohnt versiert auf das Publikum zu und versucht es suggestiv in immer wieder neue Verschwörungen hineinzuziehen. Dabei versteht es die Inszenierung, mit Übertreibungen und Brüchen Abstand zu den unterschiedlichen Erzählungen aufzubauen. Doch wer meint, hier ginge es nur um Verschwörungen rund um Corona, der irrt gewaltig. Diese Verschwörung geht tiefer und ist so einfach nicht erzählt. Schon dreht die Bühne sich weiter und das Stück landet bei den Themen Rassismus, Rechtsradikalität und Antisemitismus. Geschickt führen die manchmal schwindelig machenden Erzählstränge um Wahrheit und Verschwörung und Gut und Böse am Ende in eine gemeinsame Aufzählung von rechtsradikalen Attentaten und Jahrhunderte zurückführenden antisemitischen Gräueltaten als einer der ältesten Verschwörungserzählungen. Dies war auch der ursprüngliche Ausgangspunkt für Konradin Kunzes Stückidee: Der rechtsradikale Anschlag auf die Synagoge in Halle und der rassistische Anschlag in Hanau; beide motiviert durch Verschwörungserzählungen.
„CON5P1R4.CY (Keine Zufälle)“ ist ein Balanceakt, denn schließlich will es keine neuen Verschwörungen hervorrufen oder alte bestärken. Dafür findet es die passende Ästhetik und den richtigen Ton für ein Publikum ab 14 Jahren und bleibt am Ende eine herausfordernd aufrüttelnde Diskussionsvorlage und ein engagiertes Theaterexperiment, das sich lohnt.