Ralf Käselaus Bühne zeigt ein völlig heruntergekommenes Herrschaftszimmer, in dem anfangs zerschlissene Matratzen den hier hausenden Royals ihre verlotterten Bettstätten bieten. Später wird der Raum zum Thronsaal oder zum Sitzungszimmer, bis er schließlich, wenn Unwetter und Seeungeheuer um die Wette wüten, hinweggefegt wird. Das also ist Idomeneos Palast: Von hier brach er einst auf in den Trojanischen Krieg; hier ließ er seinen Sohn Idamante zurück; hierhin deportiert er nun die diesen Idamante liebende trojanische Prinzessin Ilia. Und hier sucht auch die notorische Elettra Zuflucht, die Idamante mit der Leidenschaft einer Furie als Gatten beansprucht. Die Wände zeigen barocke Zierelemente, sind aber halbtransparent verglast, so dass man draußen immer wieder Volk wahrnimmt, das kleinbürgerliche Alltagskleidung trägt und manchmal neugierig hereinlugt. Dem Arbace ist gleich ein ganzes Beraterteam zugeordnet, Herren in grauem Frack, die wie Botschafter zwischen dem zivilen Draußen und dem verkommenen Drinnen hin und her wechseln. Von den Royals in ihrer Lotterbude werden sie meist als lästige Störenfriede empfunden.
Die Semantik dieses Settings ist klar und zeigt sich besonders deutlich in einer Szene im zweiten Akt, wo die Berater eine Art Kabinettsitzung vorbereiten und Akten herbeibringen – hier wirken sie wie Staatssekretäre, interessiert am Funktionieren des Regierungsapparats, das aber diese völlig verkommenen Herrscher nicht mehr gewährleisten können. Der König, statt sich mit den Unterlagen zu beschäftigen, faselt nur vom Furor des Meeres in seiner Brust, was die Frackträger sichtbar irritiert. Statt ihre Funktion zu erfüllen, sind die kretischen Royals heillos verstrickt in die Traumata ihrer Kriegsvergangenheit und in staatlich irrelevante Liebeswirren. Und am Ende erfahren wir, was mit der Welt geschieht, wenn sie so regiert wird: Ilia trägt einen Globus herein, auf dem „Fine“ steht. Das kann sich natürlich auf den zweiten Akt beziehen – hier aber ebenso gut auf den Weltuntergang.
Am Ende opfert Idomeneo den Sohn tatsächlich, sein selbstzerfressener Egoismus siegt. Aber die Tat ist sinnlos, da der meergöttliche Erlösungsspruch unmittelbar folgt. Idamante ist da vollends vom Bräutigam zur Braut geworden, überhaupt scheint das Brautkleid hier die Tracht des Ofers zu sein. Die Einsetzung Idamantes als Idomeneos Nachfolger hat sich erledigt, der Generationswechsel unterbleibt, der sinnlose Sohnesmord löst eine kollektive Selbstmordorgie aus, alles versinkt im Blut. Fioroni serviert Schlachtplatte Idomeneo – und das Orchester spielt dazu den langsamen Satz aus Mozarts Sinfonia concertante KV 364. Ein merkwürdig willkürlicher Eingriff. Peter Sellars hatte in Salzburg für sein ähnlich willkürlich drangehängtes Finale immerhin die für den „Idomeneo“ nachkomponierte Ballettmusik KV 367 gewählt. Fioroni aber metzelt mit diesem Finale sanguinoso auch das Stück und seine Charaktere hin.
Er ignoriert völlig, dass Mozart hier eine aufklärerische Spätform der Opera seria geschaffen hat, etwas völlig Singuläres, wo die Figuren nicht mehr die tragischen Opfer göttlichen Wirkens sind, sondern selbst Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und ihre Schuld reflektieren und eingestehen. Idomeneo bereut sein in höchster Not getanes Opfer-Gelübde, ihm ist zudem völlig klar, dass Schluss sein muss mit der trojanischen Kriegsvergangenheit. Die Trojaner bekommen die Freiheit, der feindlichen Priamos-Tochter Ilia will er Vater sein, sogar der Hochzeit mit Idamante stimmt er zu und düpiert damit Elettra, die unter dynastischem Gesichtspunkt einzig richtige Braut. Was dieser aufgeklärten Versöhnung immer wieder in die Quere kommt, das ist tatsächlich das vollkommen irrationale, destruktive Wüten göttlicher Kräfte. Aus dieser Konstellation hatte Hans Neuenfels in seinem Skandal-„Idomeneo“ 2003 an der Deutschen Oper Berlin die logische Konsequenz gezogen: Am Ende schaffen sich die Protagonisten diese Götter vom Hals. Fioroni aber inszeniert – in der Personenführung brillant gearbeitet, in der Semantik intelligent assoziierend, in den Szenen detailliert und jederzeit spannend – glatt am Zentrum des Werks vorbei.
Für ein Stadttheater, sein Allround-Orchester und seine Sänger ist diese späte, retrospektiv barockisierende, aber eben doch längst nicht mehr wirklich barocke Seria-Oper eine stilistische Herausforderung. Man muss dem Staatstheater Kassel das Kompliment machen, dass es diese insgesamt gut besteht. Jörg Halubek motiviert das Orchester zu einem schlanken, feingliedrigen und facettenreichen Klangbild, kann allerdings einige Wackelkontakte zwischen Bühne und Graben und im Sängerensemble nicht verhindern. Unter den Sängern hat mir die Elettra der Vida Mikneviciute mit Abstand am besten gefallen: ein Sopran, dessen Stimmstrahl leuchtet wie ein Flammenwerfer, der aber doch nie ausbricht aus der stilistischen Contenance dieses Werkes, sondern mit klarem Fokus, lupenreiner Stimmführung und enormer Empathie den Charakter einer von ihrer Vergangenheit gezeichneten Frau wiedergibt. Auch Maren Engelhardt zeigte als Idamante viel vokale Kultur und in der Höhe ein schön leuchtendes Timbre, blieb aber in der Tiefe etwas blass. Und Younggi Moses Do wertete – wie die Regie – den Arbace auch vokal enorm auf, mit hellem, elastischem, nur anfangs etwas belegtem Tenor. Lothar Odinius gab dem Idomeneo einen ziemlich wuchtigen Stentor-Tenor (um in der griechischen Terminologie zu bleiben) und spielte die königliche Zombie-Travestie brillant aus, ließ aber, wie die Inszenierung, die moralischen Skrupel dieses Königs vokal unterbelichtet. Und Elizabeth Bailey sang die Ilia musikalisch einfühlsam, aber ihre lyrisch helle Stimme blieb diffus im Fokus und flackernd im Vibrato.
Da der Sänger des Idomeneo bei der Premiere indisponiert war, habe ich die zweite Vorstellung besucht. Im nicht ausverkauften Haus bejubelte das Publikum das Ensemble herzlich. Bei der Premiere allerdings soll es für die Inszenierung auch heftige Buhs gegeben haben.