2019 kann die Vertragsfreiheit auch nicht grenzenlos sein, aber schon die Mischform aus deutschen Dialogen und originalsprachigen Songs, die beim ständigen Umschalten zwangsläufig den gesteigerten Grad theatraler Künstlichkeit betont, öffnet Möglichkeiten zur Neuorientierung. Melissa King nutzt sie für ihren dritten Weg, der Tanz ist ihre alles übersprudelnde Energiequelle, man könnte ihn auch das Trafowerk des Unternehmens nennen. Sie schickt die wütenden Jugendbanden der Jets und Sharks, der Eingeborenen und der Eingewanderten, auf ein choreographisch wohlgeordnetes Schlachtfeld der verkümmerten Hoffnungen. Die explosive Gruppendynamik (zwanzig gecastete Tänzerinnen und Tänzer mit hinreichender Gesangs- und Dialogbegabung) sagt in der sehr ausführlichen Eröffnungsszene bereits alles über die vergiftete Stimmungslage, noch ehe dem Drama das knapp gehaltene Wort erteilt wird. Je artifizieller die Bewegung vorangetrieben ist, desto klischeehafter wirkt dann allerdings die naive Nacherzählung der Stationen-Geschichte. Die Regisseurin arbeitet dagegen an, indem sie gezielt die Tonlage verschärft, wenn der Polizeieinsatz zum Killer-Kommando und die Belästigung der Puerto-Ricanerin durch „die Amis“ zur Massenvergewaltigung hochgestuft wird. Fanfarenstöße, da die angestoßene Aktualisierung letztlich doch auf nachgeladene Nebensätze und ein mächtiges Schlussbild vom World Trade Center beschränkt bleibt, immer auf dem Weg zu den nach wie vor verblüffend vielseitigen Musiknummern.
Kapellmeister Lutz de Veer, parallel grade auch für Puccinis Gefühle im eiskalten Händchen zuständig, fächert sie mit der stilistisch stabilisierten Staatsphilharmonie energisch auf. Vitalität ist Trumpf, das Schlagzeug drängt sich nach vorn. Zwischen gefühliger Arie und kabarettistischem Couplet, saftigem Mambo und zärtlichem Duett – der Dirigent ist überall zur Stelle für die Ohrwurm-Dressur. Und wird auch gebraucht, etwa vom Charaktertenor Hans Kittelmann aus dem Opernensemble, der den Tony nicht als strahlenden Sonnyboy, sondern wie nach innen gerichtet singt. Man ist irritiert, hört hin und kann es als eigene Interpretation goutieren. Sopranistin Andromahi Raptis, zuletzt in Mozarts „Cosí fan tutte“ aufgefallen, gibt der Maria alle Gefühlsfarben und viel von dem Liebreiz, den Natalie Wood der Figur einst verpasste. Myrthes Monteiro (Anita) ragt aus dem ansonsten als solides Kollektiv wahrnehmbaren Ensemble heraus. Und natürlich die qualifizierte Randerscheinung des musikfreien Doc im Kolonialwarenladen, der den Jugendlichen mit wachsender Verzweiflung ins Gewissen redet. Jochen Kuhl, vor kurzem noch King Lear nebenan im Schauspielhaus, hat einen furiosen Auftritt von klassischer Wucht, bringt mit seiner Schimpftirade auf die sinnlose Gewalt herzhafte Grüße aus anderen Theaterwelten mit.
Bühnenbildner Knut Hetzer hat wenige Schauplätze gebaut, die seit der Verfilmung ikonenhaften Feuerleitern der Hochhaus-Fassaden durch kunstvoll stilisierte Installationen ersetzt und alles dem leeren Raum zum befreienden Tanz untergeordnet. Das Nest, das er den Einwanderer-Familien hoch droben versteckt zwischen den Gerüsten baute, eine absturzgefährdete Fluchtburg als krasse Variante des berühmten Balkons, ist als Symbol der Blickfang des Szenenentwurfs. Melissa King schaut noch viel lieber als dorthin ins große Ganze, bleibt fixiert aufs mächtig dominierende Tanzspektakel und lässt kleine Dramen-Inseln auf den Turbulenzen schaukeln. Der Kitsch-Falle, die in Bernsteins Musical seit jeher auch lauert, entgeht die aktuelle Inszenierung nicht. Aber was soll man sich übers porentief weiße „Traumballett“ der Gespenster mokieren, wenn für die Überlebenden am Ende so viel Mitgefühl übrig bleibt.