Foto: Viel Liebreiz in der Figur der Maria: Andromahi Raptis und ein furioses Tanzensemble © Bettina Stöß
Text:Dieter Stoll, am 27. Oktober 2019
Die Trümmer von 9/11, zum Mahnmal erstarrt, ragen als riesige Glasscherben zwischen den Kulissenwänden aus rostigen Stahlträgern bedrohlich in die Szene. Auf dem Zwischenvorhang ploppt im knalligen Graffiti-Potpourri der Wahlkampf-Slogan „Built that Wall“ samt orangenem Schöpferbildnis auf. Leonard Bernstein, der politisch denkende Künstler, hätte wohl nichts dagegen gehabt, wenn sein Musical-Welterfolg „West Side Story“ aus dem Jahr 1957 erneut so nah an die Gegenwart heranrückt, dass es sofort schmerzt. Er hatte ja die Konflikte der eigenen Zeitgenossen im Blick, als er Shakespeares einige hundert Jahre älteres Veroneser Modellpaar „Romeo und Julia“ samt feindseligen Gefährten in die Häuserschluchten von Manhattan versetzte.
Die Regisseurin, die am Nürnberger Opernhaus die Neuinszenierung des viel- und im Tournee-Schlendrian oft auch abgespielt wirkenden Meisterwerkes jetzt anpackte, könnte kaum kompetenter sein. Die US-Amerikanerin Melissa King war in mehreren Produktionen die temperamentvolle Puerto-Ricanerin Anita, wurde in Deutschland für ihre alternative Choreographie zum Broadway-Original ausgezeichnet und will es nach den gesammelten Erfahrungen mit dem so direkt auf Herz und Gemüt zielenden Stück nach eigener Zielvorgabe vor allem „athletischer und aggressiver“ als in der Vergangenheit. Früher, sagt sie, wollte sie immer strikt puristisch das Musical in seiner Entstehungszeit belassen: „Aber dann ist Trump passiert.“ Jetzt fühlt sie sich wie in eine Zeit geworfen, „in der jeder das Recht hat, andere Menschen mit Respektlosigkeit zu behandeln“. Hat die „West Side Story“ darauf Antworten? In Nürnberg ist jedenfalls ein Gegenentwurf entstanden, denn hier war 1972/73 die deutsche Erstaufführung (Kopie der „deutschsprachigen“ von der Wiener Volksoper), und bei der mussten die Schritte vom Broadway abgezählt nachgestellt werden.
2019 kann die Vertragsfreiheit auch nicht grenzenlos sein, aber schon die Mischform aus deutschen Dialogen und originalsprachigen Songs, die beim ständigen Umschalten zwangsläufig den gesteigerten Grad theatraler Künstlichkeit betont, öffnet Möglichkeiten zur Neuorientierung. Melissa King nutzt sie für ihren dritten Weg, der Tanz ist ihre alles übersprudelnde Energiequelle, man könnte ihn auch das Trafowerk des Unternehmens nennen. Sie schickt die wütenden Jugendbanden der Jets und Sharks, der Eingeborenen und der Eingewanderten, auf ein choreographisch wohlgeordnetes Schlachtfeld der verkümmerten Hoffnungen. Die explosive Gruppendynamik (zwanzig gecastete Tänzerinnen und Tänzer mit hinreichender Gesangs- und Dialogbegabung) sagt in der sehr ausführlichen Eröffnungsszene bereits alles über die vergiftete Stimmungslage, noch ehe dem Drama das knapp gehaltene Wort erteilt wird. Je artifizieller die Bewegung vorangetrieben ist, desto klischeehafter wirkt dann allerdings die naive Nacherzählung der Stationen-Geschichte. Die Regisseurin arbeitet dagegen an, indem sie gezielt die Tonlage verschärft, wenn der Polizeieinsatz zum Killer-Kommando und die Belästigung der Puerto-Ricanerin durch „die Amis“ zur Massenvergewaltigung hochgestuft wird. Fanfarenstöße, da die angestoßene Aktualisierung letztlich doch auf nachgeladene Nebensätze und ein mächtiges Schlussbild vom World Trade Center beschränkt bleibt, immer auf dem Weg zu den nach wie vor verblüffend vielseitigen Musiknummern.
Kapellmeister Lutz de Veer, parallel grade auch für Puccinis Gefühle im eiskalten Händchen zuständig, fächert sie mit der stilistisch stabilisierten Staatsphilharmonie energisch auf. Vitalität ist Trumpf, das Schlagzeug drängt sich nach vorn. Zwischen gefühliger Arie und kabarettistischem Couplet, saftigem Mambo und zärtlichem Duett – der Dirigent ist überall zur Stelle für die Ohrwurm-Dressur. Und wird auch gebraucht, etwa vom Charaktertenor Hans Kittelmann aus dem Opernensemble, der den Tony nicht als strahlenden Sonnyboy, sondern wie nach innen gerichtet singt. Man ist irritiert, hört hin und kann es als eigene Interpretation goutieren. Sopranistin Andromahi Raptis, zuletzt in Mozarts „Cosí fan tutte“ aufgefallen, gibt der Maria alle Gefühlsfarben und viel von dem Liebreiz, den Natalie Wood der Figur einst verpasste. Myrthes Monteiro (Anita) ragt aus dem ansonsten als solides Kollektiv wahrnehmbaren Ensemble heraus. Und natürlich die qualifizierte Randerscheinung des musikfreien Doc im Kolonialwarenladen, der den Jugendlichen mit wachsender Verzweiflung ins Gewissen redet. Jochen Kuhl, vor kurzem noch King Lear nebenan im Schauspielhaus, hat einen furiosen Auftritt von klassischer Wucht, bringt mit seiner Schimpftirade auf die sinnlose Gewalt herzhafte Grüße aus anderen Theaterwelten mit.
Bühnenbildner Knut Hetzer hat wenige Schauplätze gebaut, die seit der Verfilmung ikonenhaften Feuerleitern der Hochhaus-Fassaden durch kunstvoll stilisierte Installationen ersetzt und alles dem leeren Raum zum befreienden Tanz untergeordnet. Das Nest, das er den Einwanderer-Familien hoch droben versteckt zwischen den Gerüsten baute, eine absturzgefährdete Fluchtburg als krasse Variante des berühmten Balkons, ist als Symbol der Blickfang des Szenenentwurfs. Melissa King schaut noch viel lieber als dorthin ins große Ganze, bleibt fixiert aufs mächtig dominierende Tanzspektakel und lässt kleine Dramen-Inseln auf den Turbulenzen schaukeln. Der Kitsch-Falle, die in Bernsteins Musical seit jeher auch lauert, entgeht die aktuelle Inszenierung nicht. Aber was soll man sich übers porentief weiße „Traumballett“ der Gespenster mokieren, wenn für die Überlebenden am Ende so viel Mitgefühl übrig bleibt.