Foto: „Grauzonen“ am Staatstheater Braunschweig © Bettina Stöß
Text:Hartmut Regitz, am 22. März 2021
Fotografiert wird nicht! Bei der Uraufführung der „Grauzonen“ vor gut einem Jahr im Rahmen von tanz JUNG! war das noch ausdrücklich erwünscht. Für die Filmfassung hat sich das Staatstheater Braunschweig etwas anderes einfallen lassen müssen, um die Interaktion mit dem Publikum in eine andere Bewusstseins- und Bewegungsebene zu heben. Das Stück selbst hat sich kaum verändert. Spielerisch beginnt und endet es mit Mátyás Ruzsom, der zunächst nicht als Tänzer den Entertainer gibt, sondern erstmal ans Rednerpult tritt und aufs Holz klopft. Rhythmen haben letztlich ja immer etwas Haptisches, und wenn es hier erst einmal nur die schnellen Hände sind, die den Ton angeben, folgt ihnen eben doch mit der Zeit der ganze Körper – und das ganze Ensemble kann nicht anders als tanzen: ungehindert und noch ganz dem eigenen Bewegungsimpuls folgend.
Bei seiner Arbeits- und Probierweise legt Chefchoreograf Gregor Zöllig von jeher Wert darauf, dass sie in Zusammenarbeit mit den Tänzern und Tänzerinnen erfolgt. Henrietta Horn, die Gast-Choreografin aus Essen, hält es bei ihren „Grauzonen“ ebenso, die dem Titelthema zum Trotz überaus bunt geraten. Schließlich schillert die Selbstwahrnehmung jedes Einzelnen ja auch in unterschiedlichen Farben, und wenn sich sein Umfeld verändert, verortet er sie aufs Neue. Die Grenzen jedenfalls sind fließend, und in der Filmfassung von Oliver Schirmer und Knut Busian kommen weitere Überblendungen hinzu, die das Ego auf der „Digitalen Bühne“ noch diffuser als sonst erscheinen lassen. Wandelbar ist es sowieso, und Henrietta Horn erspürt das „Ich“ im „Wir“, wie es so schön in der Online-Ausgabe des Programmhefts heißt, in einer abwechslungsreichen Szenenstrategie, die nie etwas Dogmatisches hat. Ein Bild folgt dem anderen, und bevor sich irgendwelche Ermüdungserscheinungen zeigen, kippt das Geschehen in eine andere Unterhaltungsdimension.
Das kann ganz konkret geschehen, wenn sich ein Tänzerpaar auf dem Boden wälzt, als wär’s ein Bett – und dieselbe Szene gleichzeitig, von oben gefilmt, wie auf einer Kinoleinwand zu sehen ist: ein verblüffender Perspektivwechsel, der auf der Bühne allerdings besser funktioniert als im Film. Dennoch sind ihm ebenso amüsante wie aussagekräftige Seiten abzugewinnen. Auch auf andere, man möchte fast sagen: tragisch zarte Weise wird das sichtbar, wenn sich im Schattenspiel eines zweiten Paares eine ganz andere gewünschte Wirklichkeit offenbart als die konkret gezeigte. Wie Kleider manchmal Leute machen, wird erst in einer Stop-Motion-Animation (von Georges Hann) gezeigt und dann in einem rasanten Ratespiel, an dem man sich als Zuschauer gerne beteiligt hätte. Der war eigentlich auch beim überaus unterhaltsam Rap-Duo gefragt, das die wechselnde Gruppenzugehörigkeit in Form einer Publikumsbefragung thematisiert.
Das sieht sich jetzt ersatzweise auf andere Weise gefordert. Am 27. März veranstalten Brigitte Uran und Sara Dirks einen digitalen Tanzworkshop zu den „Grauzonen“. Und vor jeder Filmvorführung gibt es zur Selbstfindung ein Mit-Tanz-Tutorial mit Anna Degen oder Joshua Haines.