Foto: Ensembleszene aus „Ein Blick von der Brücke“ von Arthur Miller © Thomas Langer
Text:Dieter Stoll, am 17. März 2017
Der alte Onkel Eddie, eigentlich auf die eigene niedliche Nichte Catherine scharf, knutscht in einem kombinierten Eifersuchts- und Wutanfall öffentlich seinen langhaarigen Schwieger-Cousin ab, der weitaus mehr Chancen bei dem Mädchen hat. Komplizierter Fall: So will er ihn demütigen, als schwul brandmarken, und damit Konkurrenz ausschalten. Fake-News, wie man heute zu sagen pflegt, absolut alternative Fakten. An diesen aggressiven Kuss zwischen zwei Männern, der vor 60 Jahren in der Londoner Erstaufführung von Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“ nur vor Club-Mitgliedern des Theaters, also in juristischer Nicht-Öffentlichkeit, ausgeführt werden durfte, erinnert sich der Autor in seinen Memoiren „Zeitkurven“ mit seufzendem Ton über die schlimme alte Zeit, die aufklärungsbedürftige. Was würde er heute sagen, wo sogar Walt Disneys Märchenpersonal wegen tanzender Männer unter sittenpolizeilichen Beschuss gerät? Gratislieferung eines weiteren Ansatzpunktes, den aktuell umtriebigen Zeitgeist direkt vom abgehangenen Dramen-Text dieses amerikanischen Bühnen-Moralisten mit der weithin stärksten Bodenhaftung abzuzapfen.
Der leitende Gedanke für diese Premiere war sowieso klar und dürfte derzeit manchen Intendanten heimsuchen, der die Migranten-Problematik gerne handfest im Spielplan einordnen möchte: Zwei illegale Einwanderer, Arbeitslose aus Italiens ärmlichster Provinz, suchen im Land der durchaus begrenzten Möglichkeiten mit Hilfe der dortigen Verwandtschaft und vorbei am gnadenlosen Recht ihren Schleichweg zum Glück. Sie werden ihn nicht finden, weil sie der Anspruchshaltung ihrer Gastgeber in die Quere kommen. Eddie, der grade noch von der Ehre faselte, den Landsleuten helfen zu können („Hattet ihr eine gute Überfahrt?“, begrüßt er die blinden Passagiere als kämen sie von der Kreuzfahrt), denunziert sie bald bei der Einwanderungsbehörde. Ein Rache-Mord als Reaktion und Entsetzen bleiben am Ende. Nur der kleine graue Mann, der schon vor Beginn der Vorstellung im Zuschauerraum gutgelaunt seine Visitenkarten verteilte („Vielleicht brauchen Sie bald mal einen Rechtsanwalt“), bleibt bei seiner und seines Erfinders Meinung, dass man „Schicksal“ nicht ergeben hinnehmen muss. Frank Watzke lief als Moderator, eher noch Mediator, beschwichtigend an den Stationen der Story entlang bis zum Blackout. Zukunft vorbei, Ende offen.
Das erfolgreiche Miller-Drama, das es aber nie in die Liga von „Tod eines Handlungsreisenden“ oder „Hexenjagd“ geschafft hat, ist als Spiegelung der heutigen US-Gesellschaft der Abgehängten denn doch etwas überfordert. Schon im Original verbinden sich Gesellschaftskritik und Psychoanalyse zu einer Knetmasse für Kolportage-Wendungen, denn im harten Kern der flott pointierten, immer noch energiegeladenen Dialoge geht es weniger um Migration als um Eifersucht. In Petra Wüllenwebers aktualisierender Fürther Inszenierung, irgendwo in einer abstrakten Theater-Gegenwart verankert, wird das gar nicht geleugnet. Wo sie „hochgezogene Zäune“ und „das bauen von Mauern“ ins Gespräch bringt, mit Worten wie „alternativlos“ oder „Kopftuch“ oder „Respekt“ blinkt, deutet sie Richtungen an, in die dann doch niemand abbiegen will. Matthias Werners Bühne besteht aus einem mächtigen leeren Stahl-Container für den Hintergrund, der viele Jalousien hat und nur drei Pappkarton-Boxen als eisiges Mobiliar der Trostlosigkeit. Davor, auf dem gedeckelten Orchestergraben, ist weite Deklamations- und Tanzfläche, wo der munterste Migrant namens Rodolpho (Matthias Kelle, eindeutig eher Pop als Puccini) zum Einstand einen Videoclip von Prince imitiert. Gesungen und gesprungen wird danach noch öfter, auch im Travestie-Duo nach Traumkino-Modell und bei der geselligen Heimweh-Anarchie des „Bella ciao-ciao-ciao“ – der unterschobene Musical-Tonfall verstärkt die Verfremdung der vorgeführten Realität von gestern im Zeugenschutzprogramm von heute. Gekonnt ist das schon, sinnvoll nicht.
Andererseits bringt Petra Wüllenweber gegen die eigene Schlachtordnung von Charakterköpfen aus dem Kühlfach denkbar hitzigstes Wortgefecht in Stellung. Das beginnt bei spielerisch albernder Komik (wenn die beiden Migranten mit ihrem Müllsack-Gepäck ankommend im Parkett den Notlichtknopf für ein Klingelschild halten und sagen „Hier wohnt Familie Panikbeleuchtung“) und endet in brüllenden Emotionen, mit denen Hartmut Volle den eifersüchtigen Denunzianten in nahezu jedem Auftritt sprachkunstvoll explodieren lässt. Sara Tamburini als Nichte, das Objekt der Begierde, trägt den aufreizenden Minirock und ein ähnlich viel enthüllendes Selbstbewusstsein passend zu den ersten Emanzipations-Ahnungen. Ihre duldsame Tante (Sabine Werner wie ein Engel der Vernunft zwischen den Fronten) und der Zweit-Cousin mit der daheim wartenden Familie (Sebastian König, fast zu lieb für den Rachemord) runden ein gediegenes Ensemble ab.
Wenn der finale Rache-Schuss gefallen ist und der nochmal herbeigeeilte Anwalt mit kreidiger Stimme die Gewalt dennoch in die Schranken weist, dürften die Zuschauer ihre Erschütterung im Griff haben. Zur Migrations-Debatte von heute hat Arthur Millers „Blick von der Brücke“ allenfalls Randnotizen beizusteuern – also kein Grund zur Aufregung.