Foto: Ingela Brimberg (Brünnhilde) und Daniel Brenna (Siegfried) im neuen Wiener "Ring" © Herwig Prammer
Text:Regine Müller, am 4. Dezember 2017
Am Ende entlädt sich nach viel Jubel fürs Musikalische doch noch ein kerniger „Buh“-Strahl für das Regie-Team, wenn auch aus wenigen Kehlen der Wiener Wagner-Werktreue-Wächter. Sie haben bis zum Schlussapplaus des dritten Abends der neuen „Ring“-Version warten müssen, denn wie beim Original kommt das Leitungsteam erst nach dem letzten Abend auf die Bühne. Neun Stunden netto statt satten 15 sind seit jenem ersten stummen Vorspiel mit Siegfrieds Tod vergangen, das sich noch zwei Mal wiederholen sollte jeweils zum Beginn von „Siegfried“ und „Brünnhilde“. Denn in der zur Trilogie geschrumpften Tetralogie ist der Mord von Siegfried durch Hagen der zentrale Moment, um den sich in der Wiener Neufassung alles in einem nicht enden wollenden Loop dreht.
Und was sich bereits am ersten Abend versprach, der den sonst eher achtlos weginszenierten „Hagen“ in den Fokus nahm, löst sich nun weitestgehend ein: Das Wagnis der radikalen und zugleich ganz puristisch nur mit Wagners Mitteln arbeitenden Dekonstruktion von Regisseurin Tatjana Gürbaca, ihrer Dramaturgin Bettina Auer und dem Dirigenten Constantin Trinks bietet tatsächlich neue und überraschende Einsichten in Wagners Monumentalwerk. Die von Wagner übernommene Technik der Rückschau, die Regisseurin Gürbaca radikalisiert und zuspitzt, indem sie lange Erzählstränge herauspräpariert und familiäre Schuldzusammenhänge unbarmherzig aufdeckt, geht auf: Am letzten Abend „Brünnhilde“, wenn der Mörder Hagen wieder auftaucht, und sich das einzige Mal eine Szene wiederholt, nämlich die Doppelhochzeit bei den Gibichungen, hat man das Gefühl, Wagners erratischen Figuren tatsächlich näher gekommen zu sein. Sie sind nun sozusagen gute Bekannte. Der frühkindlich traumatisierte, zum rächenden Hass erzogene Hagen. Der auf der wütend zärtlichen Suche nach seiner Herkunft zur Gewalt neigende Siegfried. Die idealistische, allzu früh vom Wotan-Vater bevorzugt mit Ideen und Aufträgen überforderte Brünnhilde. Der Wust an Verstrickungen hat sich nach den drei Abenden ein wenig gelichtet, geordnet, wie als hätte man vor Gericht nach langen Zeugenvernehmungen mehreren schlüssigen Plädoyers gelauscht und erwarte nun das Urteil. Aber wer ist hier schuldig? Alle, oder keiner?
Tatjana Gürbaca richtet nicht, im Gegenteil. Indem sie etwa Hagen vom dumpf groben Bösewicht zur tragischen Figur aufwertet und ihm gewissermaßen eine Fallhöhe verleiht. Auch Figuren wie Gunther und Gutrune, selbst Alberich gewinnen durch Gürbacas Beleuchtung von Vor- und Nebengeschichten an Tiefenschärfe und Menschlichkeit.
Der zweite Abend „Siegfried“ hängt in der Mitte allerdings ein bisschen durch, trotz witziger Details, wie der als besoffener Wikinger gezeigte Fafner (famos in jeder Hinsicht und zuvor ein überzeugend widerlicher Hunding: Stefan Kocan) oder das im Fauteuil versteckte Nothung-Schwert. Auch zeigen sich bei „Siegfried“ stimmliche Grenzen der insgesamt bewusst leichtgewichtigen Besetzung: Daniel Brenna spielt als Siegfried zwar ungeheuer differenziert und risikobereit einen Spätpubertierenden, muss aber forcierend mit den Anforderungen seiner Monster-Partie kämpfen – die er freilich ohne den in Bayreuth üblichen Pausen-Tag fast zur Gänze hintereinander weg singen muss. Aris Argiris ist ein stimmlich nobler, klug gestaltender und messerscharf artikulierender Wotan, dessen Bassfundament aber noch wachsen muss. Liene Kinca ist eine Sieglinde mit Anlaufschwierigkeiten und von unten angesprungenen Höhen, auch Daniel Johanssons Siegmund-Tenor steht eine Spur zu sehr unter Druck. Ingela Brimbergs als Brünnhilde klingt in „Siegfried“ erneut hoch expressiv, doch wenig fokussiert und läuft erst in „Brünnhilde“ zu großer, dann auch höhensicherer Form auf.
Wie überhaupt am letzten Abend sich das Geschehen nochmals verdichtet, und – auch im Graben – an Dringlichkeit gewinnt. Gab es bei „Hagen“ noch deutlich vernehmliche Blech-Pannen und bisweilen matte Streicher-Passagen, fügt sich unter Constantin Trinks’ souveräner Stabführung alles immer besser zusammen. Die Akustik im eher Mozart tauglichen Theater an der Wien ist selbst für die reduzierte Fassung von Alfons Abbass unbarmherzig trocken und erschwert insbesondere den Streichern den strömenden Wohlklang. Dafür haben es aber eben die Sänger leichter, über den Graben zu kommen.
Nach Brünnhildes Schlussmonolog „Starke Scheite schichtet mir dort“ – der auch hier am Schluss steht – dreht sich das zu einer schmalen Totenkammer für Siegfried geschrumpfte und dann nach allen Seiten verschlossene Bühnenbild langsam um sich selbst und der Hagen und Brünnhilde treten in ihrer Kindergestalt auf die Vorbühne. Betrachten das Kreiseln, nähern sich einander, nehmen sich bei der Hand. Ist das die „Hoffnung auf eine neue Welt“, wie es im Programmbuch steht?
Fazit: Der orthodoxe Wagnerianer wird sich wohl schwer tun mit diesem abgespeckten Remix der Tetralogie. Erhellend und in Maßstabsetzend in der analytischen Durchdringung ist diese Neufassung allemal.