Foto: Szene mit Josephine Köhler, Jochen Kuhl und Thomas Nunner aus Shakespeares "Lear" am Staatsschauspiel Nürnberg. © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 11. Oktober 2015
Von der bunten Bodypainting-Party zum allesbleichenden Todesröcheln für Gut und Böse ist es am Ende nur ein kurzer Weg in Klaus Kusenbergs Nürnberger Inszenierung von Shakespeares „König Lear“. Der von pathetischem Amtsverdruss und morbider Eitelkeit gebeutelte Herrscher, der bei der Auswahl seiner Erben die einzig liebevolle Tochter wegen ihrer Aufrichtigkeit verbannt und deren gierige Schwestern für ihre Lügen belohnt hat, musste nach der Krone auch noch den schwer auf den Schultern liegenden Pelzmantel ablegen. Er hat die Machtspiel-Requisiten abgegeben und dabei im Scheitern jegliche Autorität verloren. Er wird in die Bedeutungslosigkeit gerempelt, taumelt starrsinnig unter verrinnendem Zorn schließlich halbnackt in den naturverbundenen Wahnsinn und nimmt zwischen grell bemalten Felsbrocken deren Farbe ganzkörperlich auf. Vor dem Finale leiht ihm der Narr die Bommelmütze, er ist sein verbliebener Gefährte. Die Doppel-Besetzung verspricht mehr als die Inszenierung halten kann: Josephine Köhler, zuvor und danach die „gute“ Tochter Cordelia, markiert in den zwei so unterschiedlichen Personen zwei Seiten von spröder Zuneigung . Auf daraus entstehende Erkenntnisse wartet man allerdings vergebens.
Wesentlich luxuriöser als zwischen den Steinbrocken ging es zuvor bei Hofe allerdings auch nicht zu, denn zur Abdankungsrede wird die Königsfamilie auf einer (von Ausstatter Günter Hellweg schräggestellten) Scheibe ohne Sitzgelegenheit mit Beleuchtungs-Ring und vermutbarer Untergrundbewegung platziert. Sie steht bis auf weiteres, ehe ein Wirbelsturm mit Hilfe etlicher Bühnenarbeiter alles aus den Fugen reißt, für die Aufhebung von Ort und Zeit. Denn hier sind die Figuren samt ihrer unsichtbaren Kulissen und unübersehbaren Probleme wie auf einer gekippten Pinnwand versammelt. Der King, eben noch hat er die Grenzen seines Reichs auf Packpapier gemalt, entfesselt das vielköpfige Intrigen-Monster, das sogleich beginnt, den Niedergang einzuleiten.
„König Lear“ bleibt das Sehnsuchts- und Schmerzensstück aller Theatermacher. Großes Gefühl, großes Schicksal, große Ratlosigkeit. Wer knackt den Plot und kann die Sprache schlürfen? Schauspieldirektoren können selten widerstehen, die Herausforderung sich selbst zu genehmigen – in Nürnberg ist das prototypisch, denn vor Klaus Kusenberg griffen hier seine Amts-Vorgänger Holger Berg und Hansjörg Utzerath nach dem verwunschenen Drama. Letztlich sind sie im Scheitern vereint. Die aktuelle Inszenierung, unbefangen in ihren radikalen Strichen und unsicher im mehrfach harten Schnitt vom Pathos zur Groteske, setzt die Emotionen sicherheitshalber unter Anführungszeichen. Alles Theater, ob die Schwestern mit unterschiedlichen Modell-Frisuren (Elke Wollmann eisig giftspritzend, Julia Bartolome im Kreisch-Stress) oder die streitenden Herren mit wunderlichen Accessoires aus Schals, Brustpanzern und Rüschen verpackt sind. Christian Taubenheim schleicht als Special-Scheusal mit Halbglatze und Kinski-Raunen durch die Bastard-Rolle. Erst wenn der geblendete Graf von Gloster (Rainer Matschuck) und sein verstoßener Sohn Edgar (Julian Keck) wieder zueinander finden, wenn die Regie für Augenblicke ganz konventionell aufs Gefühl vertraut, hat die Aufführung faszinierende Momente. Zuvor sieht man solides Handwerk, das im Umgang mit den Übergrößen in Wort und Tat, mit der Vollversammlung der „Verrückten“, kleine Späße zur Auflockerung setzt („Das ist die Seuche dieser Zeit: Verrückte führen Blinde“ ist ein sicherer Lacher), aber schnell in Dramatik-Positur und Rezitations-Modus zurückfällt.
In der Titelrolle steckt die Tragik eines ganzen Lebens. Bei Jochen Kuhl ist es die Bühnen-Erfahrung eines halben Jahrhunderts. Vor 43 Jahren trat er in Nürnberg spektakulär als Musketier d`Artagnan ins Gefecht, rund hundert Rollen später ist er gefordert in der Paraderolle des eigensinnigen Greises, dem die Welt abhanden kommt. Das muss er sich erkämpfen, denn eigentlich lässt der topfit ins Handgemenge stürzende Akteur das Alter nur als spielerische Vermutung zu. Ob der Lear mit dem Abdanken womöglich sowieso nur kokettierte, wäre die daraus folgende, leider auch nicht behandelte Frage. Dass der Regisseur seinem Protagonisten vor der Premiere „reflektierende Art“ bescheinigte, ist so richtig wie vieldeutig. Jochen Kuhl nimmt Sprache immer als kostbares Gut, serviert auch diesmal selbst den Wahnwitz in Seidenpapier. Auf diese Weise sieht der Zuschauer nicht den im Nirgendwo verdämmernden Charakterschädel, sondern den Schauspieler, der ihn und sein Schicksal von allen Seiten betrachtet. Um es, dem Regie-Gebrauch des Abends folgend, mit einem Kalauer zu wagen: Kuhl bleibt cool. Damit ist er dann doch die passende Leitfigur für Kusenbergs-Inszenierung.
„Ist dies das verheißene Ende der Welt?“, lautet eine finale Frage. Eher nicht! In Nürnberg will es der Zufall, dass am Folgetag im Opernhaus nebenan mit der „Götterdämmerung“ der Untergang in nächster Lesung behandelt wird. Pragmatiker Kusenberg bleibt sowieso unverdrießlich auf Kurs: Für nächste Saison hat er sich bei Zweitverwertungs-Dramatiker John von Düffel eine Sondermischung aus „Coriolan“, „Julius Cäsar“ und „Antonius und Cleopatra“ bestellt – für ein Shakespeare-Projekt.