Foto: © Katrin Ribbe
Text:Thomas Morawitzky, am 25. Februar 2024
Stephan Kimmig hat im Stuttgarter Schauspiel Joshua Sobols Roman „Der große Wind der Zeit“ als Uraufführung auf die Bühne gebracht: Eine Familiengeschichte im Nahost-Konflikt und ein Funken Hoffnung.
Am Anfang steht, was die Welt sich wünscht, mehr denn je im Jahr 2024: Eine Israelitin, und ein Palästinenser, beginnen, miteinander zu sprechen. Zuvor jedoch rollt dieses monströse Bühnenbild auf die Zuschauer zu, mit der ganzen Gewalt des großen Konflikts: Eine graue Betonwand, gefährlich sirrend, erdrückend, eine Bedrohung.
Von rechts tritt auf, in militärischem Overall und schwarzem Kopftuch (Kostüme: Anja Rabes): Libby, die israelische Verhörspezialistin. Von links, im blauen Anzug, stolpernd: Adib, der palästinensische Historiker. Felix Strobel hat hier früh schon einen starken Auftritt, berichtet aufgelöst, geschockt von der Gewalt: „Ich habe zwei Völker gesehen, die zu irrsinnigen, grausamen, niederträchtigen Bestien geworden sind.“
Über mehrere Generationen
Joshua Sobol, geboren 1939 in Tel Mond, Palästina, gehört zu Israels führenden Dramatiker. 2021 veröffentlichte Sobol mit „Der große Wind der Zeit“ einen Roman, der Geschichte über mehrere Generationen hinweg erzählt – er selbst hat das mehr als 500 Seiten starke Werk für das Theater adaptiert. Beim Schlussapplaus der Premiere wird der 84-jährige Autor mit auf der Bühne stehen.
Libby wird durch die Begegnung mit Adib aus der Bahn geworfen. Sie beginnt, sich mit der Vergangenheit ihrer Familie zu beschäftigen, findet das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva, die im Kibbuz die freie Liebe lebte, dann im Berlin der Weimarer Republik Ausdruckstanz studierte. Ein weit gespannter Erzählbogen, der den Nahost-Konflikt von seinen Ursprüngen her erzählen möchte, zugleich die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Geschichte einer starken weiblichen Protagonistin, die Geschichte einer konfliktbeladenen Gegenwart, all dies ineinander gespiegelt – jedes Theaterstück sollte unter einer solchen Last zusammenbrechen.
Über die Grenzen der Zeit hinweg
Genau das aber geschieht hier nicht. Regisseur Stephan Kimmig lässt die Handlung immer wieder zu klaren Schlüsselszenen kristallisieren; hinzu kommt ein vorzügliches Ensemble. Therese Dörr, David Müller, Gábor Biedermann, Tim Bülow und Teresa Annina Korfmacher treten neben Camille Dombrowsky, Paula Skorupa, Felix Strobel und Sebastian Röhrle auf. Manchmal nur nimmt das Stück einen allzu deklamatorischen Ton an, wird viel erzählt, von Schicksalen, alten Lieben, von Politik und Geschichte, Dingen, die nicht mehr gut zu machen sind, oder vielleicht doch: Irgendwie muss die ausgreifende Handlung des Romans eben aufgeholt werden.
Paula Skorupa (Eva), oben: Camille Dombrowsky (Libby), Max Braun (Live-Musik). Foto: Katrin Ribbe
Bis zur Schlussszene, in der die Schauspieler als Reihe an den Bühnenrand treten, den Zuschauern die ausgestreckte Hand entgegenhalten, ziehen sich Gesten der Annäherung motivisch durch die Inszenierung, versuchen Menschen, miteinander in Kontakt zu treten, über Grenzen hinweg, auch die der Zeit. Immer wieder klingelt ein Telefon, auf der Bühne, ein Mittel der Kommunikation, das große Entfernungen überbrückt.
Tragkraft einer Figur
Libby liest im Tagebuch der Urgroßmutter. Das Bühnenbild von Katja Haß hat sich schon gedreht, wirkt nun wie der nach vielen Seiten offene Rohbau eines luxuriösen Hauses. Durch die Räume des Erdgeschosses schreitet Eva, tritt von hinten an die Urenkelin heran, blickt ihr über die Schulter.
Eva wird auf wunderbare Weise gespielt von Paula Skorupa. Der Witz, das Selbstbewusstsein, die Strahlkraft, die sie dieser Figur gibt, trägt die mitunter doch weitschweifende Erzählung einer Vergangenheit, die nun beginnt. Sie geht nach Berlin, tanzt im silbern leuchtenden Kleid einen Ausdruckstanz, der so gar nicht in ihre Zeit passen will.
Fatale Liebschaft
Weit hinten im Zuschauerraum treten auf: Kurt Weill und Bertolt Brecht, den Eva schlicht und ohne Respekt „Lederjackett“ nennt. Bei der Dreigroschenoper will sie nur die Musik gelten lassen – und landet dennoch bei ihm im Bett. Ihre romantische Affäre mit dem deutschen Architekturstudenten Johann endet bitter – er entpuppt sich als flammender Nationalsozialist und träumt von reinrassiger Nachkommenschaft. „Du hast einen typisch arischen Schädel!“, schwärmt er sie an.
In Wien will Eva ihre Familie vor der Gefahr aus Deutschland warnen, kann ihre Eltern aber nicht zur Flucht bewegen – hier ist der Betonblock das bürgerliche Gehäuse, in dem Staub gesaugt und Realität verleugnet wird. Eva kehrt in den Kibbuz zurück. Sie lässt sich ausbilden. Sie radikalisiert sich, aber ihr Sohn wird ihr niemals verzeihen, dass sie ihn alleine ließ.
Stärken und Schwächen
Die Parallelhandlung der Gegenwart: Libby, die ebendiesen Sohn, ihren Großvater Dave, sucht und schließlich findet; Dave (Sebastian Röhrle), der mit dem Motorrad durch die Wüste fährt, in einem anderen Lederjackett an der Betonmauer lehnt, als Projektion dort übergroß sinniert. Daves Kibbuz hat an der Börse spekuliert und gewonnen, in unvorstellbarer Höhe. „Ich bin es losgeworden, ich habe überflüssiges Geld an Menschen überwiesen, die es nötig hatten“, sagt Dave. Als er zuletzt seine Jugendliebe Jamila wiedertrifft, stehen nicht weniger Ressentiments im Raum, als zu Beginn zwischen Libby und Adib. Ausgeräumt werden können sie nicht, aber überwunden, von dem, was dieses Stück mit seinen Stärken und Schwächen fordert und erträumt: Der menschlichen Begegnung.