Foto: Ensemble-Szene aus „Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau” © Björn Klein
Text:Manfred Jahnke, am 7. Januar 2024
Die Uraufführung am Schauspiel Stuttgart stellt die Frage nach der Art des Handelns. Die Inszenierung von Elmar Goerden ist trotz textlastiger Dialoge mitreißend philosophisch.
Ein „dunkles, dunkles, dunkles Blau“ ist ein Sehnsuchtsort. Christof, vom Bauchspeicheldrüsenkrebs zerfressen, hat nur noch wenige Stunden zu leben. Seine Freundin Nicola, die ihn bei sich aufgenommen hat, fordert ihn auf, sie bei der Begegnung mit Orten im Kopf zu begleiten. Aber es sind nicht Orte, auf die die Beiden stoßen, sondern Menschen und so entstehen eine Menge Geschichten. Es entstehen Erzählungen, die nicht ausschließlich mit der Vergangenheit von Christof zu tun haben. Da ist der Vater, ein erfolgreicher Porscheverkäufer, der den Tod seiner Frau und die Leiden seines Sohnes verdrängt und nun seine Einsamkeit erkennt.
Klaus Rodewald gibt ihm die prägnanten Züge eines älteren Mannes, der seine Lebenswunden in einem erfolgreichen Berufsleben zu kompensieren versucht. Er trägt eine Maske, aber sie bekommt Risse, wenn der Schwager auftaucht. Dieser, Matheus, saß wegen Kinderpornografie im Gefängnis und möchte nun seinen sterbenden Neffen besuchen. Matthias Leja spielt diese Figur als gekrümmten Menschen changierend zwischen demütigem Schuldbewusstsein und Nicht-Verstehen aus. Einfach grandios, wie er das macht.
Über Generationen hinweg
Simon Stephens, dessen „Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau“ im Kammertheater am Schauspiel Stuttgart uraufgeführt wurde, hat für sein Stück auf Stuttgarter Spaziergängen recherchiert. In seinem Notizbuch, von dem Auszüge im Programmheft abgedruckt sind, stehen viele Eindrücke, die sich in den Dialogen und im szenischen Material der Inszenierung wiederfinden. Auch ein Interpretationsansatz lässt sich ausmachen, wenn er notiert: „Ich will über Figuren schreiben, die einen Gott brauchen und an Engel nicht glauben können.“ Dieser Vorstellung kommt Leja in seinem Spiel sehr nahe. Das gilt auch für Therese Dörr als Lehrerin, die ihren Sohn mit vier Jahren bei einem Brand verloren hat. Sie begegnet nun dem jungen Tomas, der den „Zauberlehrling“ liest. Simon Löcker spielt diesen verhalten neugierig, eine zarte Beziehung entsteht zwischen ihnen über die Generationen hinweg.
Der Alurahmen als Bühnenbild wird lebhaft bespielt. Foto: Björn Klein
Stephens stellt eine vereinsamte Elterngeneration jungen Menschen gegenüber, die Pläne haben, aber in und an der Gegenwart leiden. Nicht nur Christof meint, dass es gar nicht so schlecht wäre, sich aus der Welt zu verabschieden, weil diese eh in der Klimakatastrophe unterzugehen drohe. Altmännereinsamkeit bildet sich in der Begegnung zwischen dem Hauptkommissar Lukas (zurückhaltend: Gábor Biedermann) und dem Universitätsbibliothekar Karl (leutselig: Boris Burgstaller) ab. Karolina hingegen, der Teresa Annina Korfmacher laut-forsche Töne gibt, versucht ihren Bruder Benjamin (Tim Bülow) davon zu überzeugen, nicht nach Stuttgart zurückzukehren. So entsteht ein weites Feld von Geflechten, die mehr oder wenig weitläufig um die Beziehung zwischen Christof und Nicola kreisen.
Kein Bühnenrealismus
Stephens fordert für seinen Text einen abstrakten, nicht mimetischen Spielraum. Silvia Merlo und Ulf Stengl haben einen großen bespielbaren Rahmen aus geriffeltem Aluminium über die Breite der Bühne geschaffen. Diese hängt eben über den Bühnenboden und kann geschaukelt werden. Videos (Ulf Stengl) mit Texten aus „Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau“, manchmal auch Ortskennzeichnungen, laufen bis auf wenige Unterbrechungen über eine große Leinwand. Zu Beginn der Vorstellung lässt die Regie von Elmar Goerden das Ensemble in einem chaotischen Wirrwarr agieren, bis sich Felix Jordan als Christof, ganz in Weiß gekleidet (Kostüme: Lydia Kirchleitner) aus der Gruppe löst. Schlagartig herrscht Ruhe, das Ensemble setzt sich auf beiden Seiten der Bühne und schaut dem Geschehen zu.
Elmar Goerden hält sich eng an die Vorgaben von Stephens: es gibt keinen Bühnenrealismus. Die Regie geht dabei noch einen Schritt weiter: Christof und Nicola setzen sich nach ihren Szenen auf eine Bank vor der ersten Zuschauerreihe und schauen wie das Publikum auf das Geschehen. Sie sind zugleich Akteure und Betrachter aus einer Distanz. Das lässt diese Aufführung eigentümlich schillern, weil in dieser Doppelung das Verhalten des Zusehens verhandelt wird: Schaue ich nur zu oder handele ich? Felix Jordan zeigt äußerlich als Christof keinerlei Symptome seiner tödlichen Krebserkrankung, aber er handelt passiv. Er leidet nicht, sondern lässt es mit sich geschehen.
Alle Energie geht in dieser Beziehung von Nicola aus, von der schauspielerischen Entdeckung dieser Inszenierung: Camille Dombrowsky. Sie reißt nicht nur Christof mit, sondern auch das Publikum, bis hin zu dem Moment, wo er sie zum Tanzen auffordert, es (auf der Leinwand) anfängt zu schneien – und Christof stirbt: ein starker, emotionaler Moment, in der das Private im „dunklen, dunklen, dunklen Blau“ mit dem Universum verschmilzt. Aber auch sie kann durch ihr Spiel nicht die Textlastigkeit der Dialoge kaschieren in diesem Panoptikum über Stuttgart im Jahre 2022.