Foto: Ensemble des Schauspiels Leipzig in der Uraufführung von "Niederwald" © Rolf Arnold
Text:Tobias Prüwer, am 17. Dezember 2023
Mit seinem neuen Stück „Niederwald“ lädt der preisgekrönte Dramatiker Wolfram Höll das Publikum in die Bergwelt der Alpen ein. Auch in der Uraufführung am Schauspiel Leipzig sind die Gipfel zu sehen. Eine richtige Handlung ist nicht zu erkennen, doch das Ensemble meistert beeindruckend diese verschachtelte, vielschichtige Sprachkunst.
„Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“ Dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zufolge wäre uns die Sprache des Löwen völlig fremd, weil uns seine Lebenswelt fremd wäre. In seinem Stück „Niederwald“ lässt Dramatiker Wolfram Höll Berglöwen auftreten, die das Publikum nicht immer versteht. Sein mit Sprachspielen gespicktes Auftragswerk fürs Schauspiel Leipzig führt in ein Schweizer Alpendorf, in eine von Sachsen aus gesehene fremde Lebenswelt und ihren Gesetzen. Es geht in dem verrätselten Text um Verständigung und Verlust, Verwahren und Verkennen, was Regisseurin Elsa-Sophie Jach in ebenso enigmatische Bilder für einen fesselnden Abend packt.
Die Charaktere in „Niederwald“ reisen in eine für sie fremde Welt: ein Bergdorf. Foto: Rolf Arnold
Theater über Berggeschichten
Der Wagen, „der in der Kurve die Gerade nahm“, beendet das Leben der jungen Mutter kurz vor der Hochzeit. Der trauende Partner flieht vor der Beerdigung und fährt mit Baby und seiner Oma in die Heimat der Verstorbenen. In Niederwald treffen die Neuankömmlinge auf die alteingessenen Alice und Anna – ihre ferne Verwandtschaft. Zwischen Gipfelpanoramen eingepfercht, muss die kleine Familie die Regeln dieser ungewohnten Lebenswelt kennenlernen. Auch, um die Trauer irgendwie zu verarbeiten – was nicht zu schaffen ist.
Eingekreist von einem Bergpanorama finden sich auch die Spielenden auf der Leipziger Bühne (Ausstattung: Aleksandra Pavlović). Halbrund ist diese hinten mit einem auf weißen Stoff gemalten Felsmassiv in Blau und Violett verkleidet. In der Mitte steht ein weißer Ring, dessen Zentrum sich nach und nach durch Wegreißen von zylindrig aufgehängten Textilbahnen entbirgt. So sind zunächst einige Effekte mit Licht und Schatten auf der Säule möglich, bis eine Mulde – oder Talsohle? – zum Spiel frei wird. Wobei nicht viel Spiel stattfindet, die Darstellenden sind aber unentwegt in Bewegung, so dass aus ihrem Sprechen kein Aufsagen wird. Sie treten durch kurze Dialog in Kontakt zueinander. Meistens sprechen sie den Text als Erzähler, der je aus individueller Perspektive die Handlung wiedergibt. Wobei auch nicht viel passiert. Statt mit Berggeschichten sieht sich das Publikum vor allem mit Sprachschichten konfrontiert und einiger Folklore, wenn beispielsweise ein Totenzug umgeht.
Mit Schaukeln wird das Sprachkunstwerk von Wolfram Höll in Leipzig unter anderem in Bewegung gesetzt. Foto: Rolf Arnold
Bemerkenswerte Sprechkunst in Leipzig
„In Niederwald wächst nie wieder Wald“, heiß es. Man erfährt, was die Dorfmenschen im Jahreskreis aus dem Wald holen, wie man Pfifferlinge und Heidelbeeren regional nennt. Immer wieder sind Schweizer Fragmente eingefügt. Nicht alles ist verständlich oder spielt das Ensemble mit ähnlich klingenden Worten und Bedeutungen: „Alice bleibt an mir hängen.“ Laut Wittgenstein kann man Sprache als alte Siedlung ansehen: „Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ Bleibt man im Bild, kann man sich einen Autor vorstellen, der mit großem Vergnügen jeden Winkel dieser Siedlung ausleuchtet und abgeht. Und ein Stück weit nimmt er in „Niederwald“ das Publikum auf seinen Spaziergang mit.
Der in Leipzig geborene Autor Wolfram Höll ist selbst vor Jahren in die Schweiz gezogen und hat seine Beobachtungen in dieses Drama gekleidet. Der Text wirkt artifiziell, aber nicht zu sehr. Dosiert sind Verästelungen, Witz und Mundart, so dass man dieser absonderlichen Welt, die Höll eröffnet, fasziniert zuschaut. Das ermöglichen insbesondere die fünf Darstellenden, denen es gelingt, Kunstsprache und dialektale Zungenbrecher völlig ungekünstelt zu sprechen und den Rhythmus zu halten. Man klebt förmlich an ihren Lippen, während gar nicht so viel geschieht. Aber man hört und sieht sich satt an Sprachspiel und schöner Optik. Bis sich im Schlussbild Nebel über eine violett ausgeleuchtete Bühne legt. Während zwei alte Berglöwen auf Kettenschaukeln der Dunkelheit entgegen schwingen und darüber diskutieren, warum man nicht „Lärchli“ sagt. Schön wie seltsam.