Szene aus "Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert"

Vor der kalten Wand des Gotteshauses

Ayla Yeginer und Ensemble: Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert

Theater:Theater für Niedersachsen, Premiere:16.03.2024 (UA)Regie:ayla yeginer

Seit Jahren sind Missbrauchsfälle in der Kirche bekannt, doch wirklich diskutiert wird es kaum. Das Theater für Niedersachen in Hildesheim bringt nun eine umfassende Recherche auf die Bühne – empathisch und informativ.

Spätesten seit dem 2010 viral gegangenen Skandal um das Berliner Canisius-Kolleg ist der Zusammenhang von Katholische Kirche und systematischem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wohlbekannt. Reagiert wurde mit Empörung, Verachtung, Hilf- und Ratlosigkeit. Aber auch heute, etliche Studien sowie tausender öffentlich gemachter Fälle später, möchte wohl kaum einer unbedingt detailliert damit konfrontiert werden, in welchem entsetzlichen Ausmaß gerade Priester, Diakone und Ordensbrüder ihre Schutzbefohlenen vergewaltigt, das als „gottgefällige“ Handlung gedeutet haben. Und wie die Kirche das bagatellisiert und vertuscht hat, bis Verjährung geltend gemacht werden konnte. Stets die Minimalisierung der eigenen Rufschädigung, nie die Betroffenen im Blick.

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Aber genau das gehört natürlich auf die Theaterbühne, gerade im Zentrum des Bistums Münster. Eine kraftvoll komödiantische Abendunterhaltung ist nicht zu erwarten, für die Regisseurin Ayla Yeginer am Ohnsorg-Theater und seit 2020 als Co-Schauspieldirektorin am Theater für Niedersachsen geschätzt wird. Aber gerade sie nahm die Herausforderung des Sujets an und gab Kurse im Studiengang Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis der Universität Hildesheim, wobei sich ein Team von sieben Studierenden zusammenfand, mit dem sie recherchierte und eine Stückentwicklung realisierte: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert“.

Eine Person schaut über eine Mauer auf einer Bühne und befestigt mehrere Zettel daran.

Die Bühne in Hildesheim wird von einer großen Wand bestimmt – als eine Art Projektionsfläche. Foto: Jochen Quast

 

Schauspiel recherchiert die Taten der Kirche

Aktenberge schmücken rechts und links die Bühne in Hildesheim. Dahinter ragt eine Marmorimitat-Wand empor, auf die prunkvolle Kälte der unbarmherzigen Kirche verweisend (Ausstattung: Anna Siegrot). Sie wird im Laufe der Aufführung mit Dokumenten zu Missbrauchsfällen tapeziert. Klaus Haucke, der in einem katholischen Ordensinternat missbraucht wurde, nimmt das Mikrofon und liest eine Stellungnahme vor.

Er verdeutlicht, dass es nicht um ein Netzwerk Pädophiler, nicht um homosexuelle Gewalt, sondern um sexualisierte Machtausübung bei den Tätern gehe. Die Kirche sei Teil des Problems, Missbrauch ist tief in ihrer DNA verankert aufgrund der Sexualmoral, Geschlechterbilder, Bigotterie, des Zölibats und überhöhten Selbstbildes. In den Raum geworfen wird die Frage, was an Aufarbeitung bisher geleistet wurde. Die Aufführung legt nahe: viel zu wenig. Für Ratsuchende sind Hilfsorganisationen im Theater ansprechbar, für Spenden wird von der Bühne herab geworben.

Das in Schwarz gekleidete, siebenköpfige Schauspielensemble steht von seinen Stühlen auf und liest aus dem Textbuch vor. Erstmal stellt es die MHG-Studie vor, dann die EKD-Studie. Sie belegt, dass Missbrauch auch ein Problem der liberalen evangelischen Kirche ist, wo „Distanzlosigkeit als Norm“ praktiziert und eben der coole Pastor übergriffig werden kann. Zwischen den präsentierten Fakten (Dokumentartheater) schlüpft das Ensemble für Zitate immer wieder kurz in Rollen oder entwickelt szenische Miniaturen (Repräsentationstheater).

Da bricht es etwa aus einem einst tiefgläubigen Katholiken (Martin Schwartengräber) hervor, körperbebend im Schrei-Tonfall spricht er von seiner „unsäglichen Wut“, dass die Täter fast alle straffrei bleiben und eine Reform der Kirche ausbleibe: „Was aber funktioniert: sich für die Täter um die Wohnsitze, Leistungsbezüge, Anwaltskosten und Vorhangstangen zu kümmern! Wer übernimmt die Verantwortung dafür, was aus den Kindern geworden ist? Die Kirche jedenfalls nicht. Ich fühle mich schuldig, weil ich die Kirche so lange mit Leib und Seele und ja, auch finanziell unterstützt habe und fühle mich wie ein dummes Schaf, das den falschen Hirten gefolgt ist.“

Zwei Personen in schwarzer Kleidung blättern durch Papiere.

Immer wieder nutzt das Ensemble in Hildesheim die Recherchen auf für kurze Szenen. Foto: Jochen Quast

Theater als letztes Gericht

Wie Anspruch und Wirklichkeit der katholischen Geistlichkeit so gar nicht zusammenpassen, verdeutlicht Yeginer gern mit eingestreuten Bibelzitaten. Schön böse die Szene, wenn ein Kirchenmann über dem Geschehen thront und einen Betroffenen mit religiösen Phrasen und Kirchenglockengeläut mundtot zu machen versucht, während er mit dem Zufluchtsort Kirche als Ort des Grauens abrechnet. Schließlich wirft ihm der Kirchenmann als Hilfsangebot eine Strickleiter ins Paradies zu – als Angebot zum Suizid? Jedenfalls ein Anknüpfungspunkt, um dezidiert die lebenslangen Folgen traumatisierender Missbrauchserfahrungen auszuführen, von jahrelangen Psychiatrieaufenthalten, Angst- und Bindungsstörungen, Selbstmordversuchen geht die Rede.

Der Betroffene spricht in einer weiteren Szene bei zynischen Angestellten der katholisch-kafkaesken Bürokratie vor. Sie schätzen es als völlig korrekt ein, einen kinderschänderischen Priester nur wegen des Verstoßes gegen das Zölibat an einen neuen Einsatzort zu versetzen, wo er weiter sein Unwesen treiben kann, anstatt ihn zu exkommunizieren und an die Justiz zu überstellen. Eine 1000-Euro-Überweisung als Antwort der Täterorganisation auf seine Leidschilderungen bezeichnen Betroffene als Verhöhnung.

Menschen in schwarzer Kleidung stehen auf einer blau leuchtenden Bühne in einer Reihe vor einer Wand voller Zettel.

Die Inszenierung in Hildesheim sammelt zahlreiche Fakten und Fälle und schafft so ein erschreckendes Bild. Foto: Jochen Quast

 

Ein Beispiel aus Hildesheim

Ein Lokalbezug darf in Hildesheim natürlich nicht fehlen. In einem kauzig satirischen Dialog streiten Mutter und Sohn über Bischof Heinrich Maria Janssen, der unter anderem einen zehnjährigen Ministranten fünf Jahre lang missbraucht haben soll. „Er nutzte immer wieder seine Autorität und Stellung aus. Es kam zu Masturbation, Oral- und Analverkehr. Der Bischof galt mir als Gott, den ich nicht kritisieren oder infrage stellen konnte.“ Außerdem schützte er pädokriminelle Priester, indem sie nach Südamerika versetzt und dort von Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche, unterstützt wurden. Janssens Gebein ruht heutzutage im Hildesheimer Dom, „und die Seele bei mir“, sagt der Teufel. Diesen Komödienmoment gönnt sich Yeginer dann doch, indem sie Teufel und Gott darüber streiten lässt, wer die Missbrauchspriester nach dem Tode aufzunehmen habe.

Besonders gut funktioniert das szenische Wechselspiel von Fakten und persönlichen Erfahrungen, da so tote Statistikzahlen über vielfach tote Täter lebendig beleuchtet werden. Es gelingt ein informativer, empathischer, dramaturgisch überzeugend collagierter Abend. Der macht die nicht mehr ohnmächtig sein wollende Wut intellektuell wie auch emotional nachvollziehbar. Dabei überzeugt die Inszenierung mit sparsam konzentrierter Theatralität. Applaus!