Ohne Brünnhilde keine Zukunft

Caren Jeß: Die Walküren

Theater:Schauspiel Hannover, Premiere:08.03.2025Regie:Marie Bues

Bereits die Vorlage von Caren Jeß‘ „Die Walküren“ verwandelt die klassischen Wagner-Figuren absichtlich zu unterkomplexen Klischees. Regisseurin Marie Bues inszeniert dazu am Schauspiel Hannover eine Brünnhilde mit Selbstbestimmung und Solidarität.

Sagenhafte 12.357 Meter braucht es, um vom Meeresspiegel auf den Walkürefelsen empor zu klimmen. Bislang überragt das mythische Heim alle irdischen Gipfel. Doch, wer weiß? Womöglich wird eines Tages die Plattentektonik oder – wahrscheinlicher noch – die durch den Klimawandel bedingte Absenkung des Meeresspiegels neue Hochgebirgsrealitäten geschaffen haben. Noch jedenfalls ist von Zukunftsgeologie auszugehen. Analog zum Kunstwerk der Zukunft, als dessen Urheber sich Richard Wagner sah.

Auf die Spuren des in vielem zwielichtigen Bayreuther Meisters begibt sich Caren Erdmuth Jeß, um einerseits den aus dem ersten Tag der Ring-Tetralogie vertrauten Plot weitgehend beizubehalten, andererseits die Figuren von Grund auf umzudeuten. Nicht ziehen die – für Jeß genderfluiden – Walküren der vor einem Jahr in Braunschweig uraufgeführten Überschreibung des Wagnerschen Repertoireschlagers zu Schlacht und Tod aus, sie können ihren Felsen nicht verlassen. Der Grund bleibt unerfindlich. Jedenfalls befähigt sie die hohe Warte zur Beobachtenden der die Erde malträtierenden götter-, heroen- und menschengestaltigen Untoten namens Wotan, Fricka, Hunding und Siegmund. Ferner zu Mahnenden und Warnenden. Nicht zu vergessen, den überdies Allerbest- Befreundeten der Erzwalküre Brünnhilde. Solidarität, die sie dringend braucht.

Die konkrete Utopie fest im Blick

Regisseurin Marie Bues begleitet die von Wotans einstiger „Wunschmaid“ zum selbstbestimmtem Ratschluss Emanzipierte auf ihrem rastlosen Einsatz zur Rettung der Welt. Der herrschenden Dystopie setzt sie die konkrete Utopie einer neuen Generation mit Siegfried als deren Erstgeborenem entgegen. Alles hängt von Brünnhilde ab, denn einzig sie ist zum Pendeln zwischen Walkürefelsen und restlicher Erde begabt. Bues lässt sie als – durchaus weibliches – Prachtwesen agieren: hellwach und immerfrisch, lösungsorientiert, strategisch kompetent, couragiert, empathisch, das Herz auf dem richtigen Fleck und nie um’s treffende Wort verlegen. Beinahe zu schön, um wahr zu sein. Nagender Zweifel stellt sich ein, ob es bei solcher Brünnhilde überhaupt eines Siegfried bedarf. Ob sich in Brünnhilde nicht längst die Zukunft weist.

Die Walküren Schauspiel Hannover

Abgehalfterte Götter und Heroen, zukunftsfrohe Walküren. Ensemble. Foto: Kerstin Schomburg

Sei dem, wie ihm sei: Auf ihre Weise befreit sich auch des erwarteten Erlösers werdende Mutter Sieglinde aus vermeintlich über sie verhängten Verwandtschafts- und Ehebanden. Gatte Hunding ist ihr nicht ganz gleichgültig, doch alles andere als unentbehrlich. Hingegen möchte sie Siegmund – den Bruder und Vater ihres Kindes – am Ende nur noch loswerden. Wechselnd pragmatisch, enerviert oder rotzig schlägt sich Sieglinde durch’s Leben. Verglichen mit der übrigen Wagner-Personnage, modelliert Jeß ihre Figuren unterkomplex: Wenn er nicht herrschaftsichernden Machenschaften obliegt, traktiert Wotan die Flöte. Freilich talentfrei. Fricka trachtet nicht nach Einhaltung der Gesetze, sondern ausschließlich nach Blut. Siegmund ist ein bloß tumber Tor. Bues verleiht derlei Klischees so viel Leben wie irgend möglich.

Massiver Walkürefelsen

Für alles dies wuchtet Katja Haß einen bunkergleichen Walkürefelsen auf die Bühne. Immerhin gewährt der finstere Trumm uneinnehmbare Zuflucht vor Wotans Wüten. Die verheerte Ebene unterhalb des schutzgewährenden Massivs taugt nur zur einem, Krieg. Amit Epstein verpasst den Titelfiguren queere Revuefummel. Überhaupt mischen viel Ironie und Übertreibung mit. Brünnhilde darf im Blau ihrer Robe und Blond ihrer Perücke strahlen. Mit Fug: Würde Birte Leests Erzwalküre auf ein politisches Amt zielen, sie hätte beste Chancen als Direktkandidatin. Dieser Brünnhilde ist eine Menge zuzutrauen, im Guten. Eigensinnig bürstet Tabitha Frehner die sich mit der Wagnerschen Sieglinde verbindenden romantischen Stereotype wider den Strich. Irene Kugler gibt einen von allen und allem angeödeten Wotan. Mit ihnen schließen sich die weiteren Spielenden zur runden Ensembleleistung zusammen.