Foto: Nils Kahnwald, André Szymanski, Tim Porath und Maja Beckmann in „State of Affairs“ am Thalia Theater Hamburg © Krafft Angerer
Text:Ruth Bender, am 5. Mai 2024
Die Zukunft hackt sich in Hamburg in die Gegenwart. Die Autorin und Regisseurin Yael Ronen wagt am Thalia Theater in Hamburg mit ihrem neuen Stück „State of Affairs“ einen wilden Ritt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dabei nimmt sie auch den literarischen Kanon und Gewissheiten auseinander.
Die Botschaft kommt direkt aus der Zukunft: Welt verändern, Krieg verhindern! Damit auch die zukünftigen Generationen noch was haben vom schönen blauen Planeten. Kennt man schon. Aber in Hamburg brennen sich pixelig flirrend ein paar altgewordene Gesichter ins Thalia Theater, knarzt und kratzt sich eine fremde Technologie in den Raum. Leute von heute und von morgen zugleich, wie sie da als übergroße Projektion altersmild ins Publikum sprechen. Per Cyber-Angriff haben sich die Zukunftsmenschen im neuen Stück „State of Affairs“ von Yael Ronen ins Thalia Theater gehackt und erstmal einen Auftrag – für die Menschen und für die Kunst.
Theater hinterfragt den Literatur-Kanon
Klar, dass die israelische Regisseurin mit dem Faible für Show und Musical das nicht bierernst durchdekliniert. Sie spielt den Diskurs lieber als hochvergnügliche Komödie. Und die saust 90 Minuten lang wortreich durch Zeiten, Räume und Befindlichkeiten. Prima aufgehoben zwischen herrlich flirrigen Fadenvorhängen, mit denen Bühnenbildnerin Evi Bauer Räume herstellt und auflöst, so offen transparent wie verhüllend unklar. Und auch als irritierende Projektionsfläche spielen die Vorhänge mit.
Was in dem abstrakten Setting sonst passiert, ist nicht leicht zu durchschauen. Besser also, man lässt die Bilder wirken, ebenso wie die Virtuosität des Ensembles. Das spielt – verstärkt vom dauertelefonierenden Regieassistenten, von Bühnenarbeitern, Inspizienten – erstmal sich selbst, wie sie in einer ungefähren Gegenwart herumirren. Dann eine Schauspieltruppe, die – zusammengepfercht vom „SEK Kommunikation Zukuft“ – höchst konspirativ ein Stück probt, in dem sich ein zeitreisender Lektor in alles, was die Literaturgeschichte seit Sokrates, ach was, seit der Bibel zu bieten hat, einmischt. Immer im guten Glauben an die weltrettende Kraft der Kunst.
Evi Bauer hat für die Uraufführung in Hamburg einen vielseitigen Bühnenraum geschaffen. Foto: Krafft Angerer
Wunderbares Ensemble in Hamburg
Da prallen die Eitelkeiten und Konkurrenzen des Ensembles und des Figurenarsenals produktiv aufeinander. Und vor allem Tim Porath, gerade noch als SEK-Mann Lutz auf der Bühne, zieht als besserwissender Lektor und großer Manipulator eine wunderbare, unverschämte Show ab.
Die allerdings wäre kaum möglich ohne die herrlich verpeilten Figuren aus dem fast realen Literaturbetrieb: André Szymanski als Autor mit großer Schreibblockade und noch größerer Selbstüberschätzung, Maja Beckmann als Verlegerin lavierend zwischen Kunst und Gewinnstreben und Nils Kahnwald als besserwissender Erzähler, der sich souveräner gibt als er ist. So schwirren sie durch die Schichten des Stücks, die so angenehm wie unübersichtlich verfließen. Und dass sie nebenbei auch noch als Lampe, Zimmerpflanze oder Karl Marx (Nils Kahnwald) im Einsatz sind – geschenkt.
Das Ensemble des Hamburger Thalia Theaters überzeugt in „State of Affairs“ wechselt immer wieder die Rollen. Foto: Krafft Angerer
Wie weiter mit dem Theater?
Sie spielen Schmiere, Impro-Theater und Sci-Fi, lassen den Abend schillern zwischen Groteske und Gesellschaftsstück. Und dazwischen verlaufen sich die Ensemble-Mitglieder und Publikum, begleitet vom fluffigen Soundtrack von Yaniv Friedel und Ofer Shabi, zielstrebig im Dickicht der Erzählschichten und Narrative. Aber auch die Regisseurin kann mit der Jonglage von Realität und Fiktion nicht immer mithalten. Was anfangs aussieht wie der trickreiche Entwurf einer Endlosschleife variierender Realitäten driftet irgendwann ins eher konventionell-klassische Verwirrspiel.
Dass hier eigentlich die Zukunft spricht, hatte man fast schon vergessen, als sie zum guten Schluss nochmals zu Wort kommt und eindringlich an die Verantwortung der Einzelnen appelliert. An den, der die Botschaft in die Welt trägt und sie prägt. Drohung oder Heilsversprechen – das weiß man nicht so genau. Der Lektor mag am Ende des marshmallow-luftigen Abends festgestellt haben, dass die Macht von Literatur und Kunst begrenzt ist. Weiterzumachen gilt es trotzdem.