Foto: Robert Eder, Caroline Kiesewetter, Marina Lubrich und Tanja Bahmani in „Bittersüße Zitronen“ am Ohnsorg-Theater in Hamburg © Oliver Fantitsch
Text:Detlef Brandenburg, am 26. Februar 2024
Mutig wird am Ohnsorg-Theater in Hamburg die Lebensgeschichte der sogenannten Zitronenjette mit Gerhart Hauptmanns Sozialdrama „Die Ratten“ kombiniert. Leider ist die Inszenierung von Murat Yeginer mit zu vielen Themen und Aktualitätsbezügen überfrachtet.
Wenn eine Person als „Original“ bezeichnet wird, dann ist das nicht immer ein Ehrentitel. Denn die „Originalität“, die sie von den anderen unterscheidet, beruht ja meist auf einer Absonderlichkeit in Erscheinung oder Verhalten, die zwar als lustig wahrgenommen wird, die aber keineswegs so intendiert sein muss. In dieser Konstellation liegt viel Leidenspotential. So auch im Fall der Hamburger „Zitronenjette“: Kleinwüchsig und geistig zurückgeblieben, pries sie mit ihrem Ruf „Zitroon, frische Zitroon“ in den Straßen von St. Pauli jene Früchte an, die Ende des 19. Jahrhunderts sehr begehrt waren und die sie am Hafen günstig ergattern konnte.
Sie war die Erste ihres Metiers. Schon mit 13 Jahren trug sie zum kargen Lebensunterhalt ihrer Familie bei, erregte Aufmerksamkeit auf den Straßen – und bald auch abends in den Kneipen, wo die Männer ihr den Schnaps bezahlten, weil sie so ein beschwipstes Zwergenmädchen gar zu possierlich fanden. Mehrfach führte ihre Trunkenheit zu Festnahmen, bis sie 1894 entmündigt und in die „Irrenanstalt“ in Hamburg-Barmbek eingewiesen wurde.
Hauptmanns Kaserne in Hamburg
Ja, eine wie sie könnte einem tatsächlich auch in jener Mietskaserne begegnen, in der Gerhart Hauptmann um 1910 herum seine Frau John untergebracht hat, nebst ihrer Familie sowie dem Theaterdirektor Hassenreuter und seiner Entourage und noch manchem anderen Individuum vom Rande der Gesellschaft, die sich da im Theaterfundus unterm Dach, gemeinsam mit den titelgebenden „Ratten“, ein trostloses Stelldichein geben.
Murat Yeginer ist nun mit „Bittersüße Zitronen” am Hamburger Ohnsorg-Theater den umgekehrten, freilich ebenso plausiblen Weg gegangen: Er hat nicht die Jette nach Berlin, sondern Hauptmanns Mietskaserne ins Hamburger Gängeviertel gebeamt. Frank Grupe hat die Bewohner Plattdeutsch gelehrt, Christian von Richthofen hat flotte Songs für sie komponiert. In diesem Kontext hat die kleine Zitronenhändlerin ein Theater-Zuhause gefunden, das ihrem leidvollen Schicksal zweifellos eher gerecht wird als so manches „Volksstück“ früherer Jahrzehnte, in dem beispielsweise Henry Vahl in ihre Kleider schlüpfte und sie per Gender-Travestie als lustige Person ans Publikum verkaufte, musikalisch beschwingt von Freddy Quinn, dem Nachfolger von Hans Albers als singender Matrose vom Dienst.
In „Bittersüße Zitronen“ am Hamburger Ohnsorg-Theater ist die Zitronenjette Teil einer Liebesgeschichte. Foto: Oliver Fantitsch
Die poetische Puppenstube auf der Bühne
Der Theaterfundus als Spielort hat Yeginers Bühnen- und Kostümbildnerin Beate Zoff auf eine zündende Idee gebracht: Mit viel Liebe zum Detail hat sie eine malerisch verrumpelte zweistöckige Puppenstube auf die Bühne des Großen Ohnsorg-Hauses in Hamburg gezirkelt, mit allerhand schrägen Kostümen und den Musikern der Band mahoin als nicht minder schrägen Gestalten. Die Figuren sehen aus, als hätten sie sich alle in diesem Fundus eingekleidet: puppig bunte Kunstwesen in pittoresken Roben, welche sie bis an den Rand der Karikatur charakterisieren.
Eine musikalische Tragikomödie à la „Cabaret“, auf die Yeginer und von Richthofen offenbar zielen, ließe sich in diesem Setting effektvoll aufführen – wenn es den beiden nur gelungen wäre, für ihr Material eine eigene Form zu finden. Leider verlassen sie sich viel zu sehr auf die hochkomplexe naturalistische Dramaturgie des Hauptmann-Textes mitsamt dem poetologischen Konflikt zwischen klassisch verstaubter und naturalistisch lebenswahrer Kunst, den Hauptmann in den Disputen zwischen dem alten Knattermimen Hassenreuter und seinen Schülern ausbreitet.
Beim Versuch der Übertragung dieses Diskurses auf heutige Theaterdebatten geraten Yeginer die ästhetischen Kategorien heillos durcheinander, wie er denn auch sonst allzu aktualisierungseifrig darauf aus ist, kein angesagtes Thema auszulassen – was dazu führt, dass er auch keines wirklich durchdringt. Er zitiert nur. Der abtrünnige Theologiestudent Spitta ist ein Klimakleber. Hassenreuter ist offenbar über eine MeToo-Affäre gestolpert. Seine Tochter Walburga entpuppt sich als Gender-Equality-Emanze, der Hausmeister ist ein Neonazi – unter der Themenlast ächzt die Fundus-Puppenstube schwer. Auch manchen Anfall naturalistischer Knatterchargen-Dramatik übersteht sie nicht schadlos. Und die irgendwo zwischen „Dreigroschenoper“ und Hildegard Knef angesiedelten Songs sind zwar gefällig geschrieben und nett arrangiert, aber (da dramaturgisch kaum eingebettet) stehen sie oft etwas bezugslos neben der Handlung herum.
Die Hauptmann-Überschreibung in Hamburg ist mit vielen Themen und Problemen überladen. Foto: Oliver Fantitsch
Kein Platz für Biografie in Hamburg
Es bleibt ein Verdienst, dass Yeginer die Figur der kleinen Zitronenhändlerin mit dem großen Alkoholdurst der allfälligen lokalpatriotischen Verharmlosung entreißt und sie in ein Milieu transferiert, das ihrem traurigen Schicksal Gerechtigkeit widerfahren lässt. Aber schon die Tatsache, dass Jettes Alkoholismus oder ihre Demütigung durch eine herzlose soziale Umwelt hier überhaupt keine Rolle spielen, ja, dass Yeginer ihr stattdessen eine arg an den Haaren herbeigezogene Liebesromanze mit dem Brutalinski-Bruder der Frau John andichtet, zeigt das Manko des Abends: Im dramaturgischen Gehege von Hauptmanns „Ratten“ ist schlicht kein Platz für die biografische Wahrheit der Figur. So bleibt auch Jette nur ein Zitat: eine volkstümliche Hamburg-Ikone, derer Yeginer sich bedient.
Dass dieser Abend dennoch seine starken Seiten hat, liegt vor allem an den Leistungen seiner Darsteller: Rabea Lübbe gelingt eine packende Verkörperung der Frau John, auch wenn sie in einigen Momenten ein bisschen dick aufträgt. Marina Lubrich ist eine zwischen draller Drastik und zarter Zerbrechlichkeit fein ausbalancierte Zitronenjette, die auch noch sehr profiliert singt. Ebenso wie Caroline Kiesewetter, die aus der Hauptmann’schen Sidonie Knobbe Jettes Mutter Anna Müller macht – die früher mal als Revuediva gearbeitet haben muss, jedenfalls legt sie auch ohne tieferen dramaturgischen Anlass immer mal wieder tolle Gesangsnummern hin. So ist die Musik in guten Händen, im Falle des fantastisch spielenden Sopransaxophonisten Henry Lambrecht sogar in den allerbesten. Da ist man doch immer mal wieder sehr hingerissen oder auch berührt.
Weiblicher Doppelspitze am Traditionstheater
Mit der vom Publikum begeistert bejubelten Uraufführung dieser „Bittersüßen Zitronen“ hat Murat Yeginer seinen Ausstand als Künstlerischer Leiter des Hamburger Ohnsorg-Theaters gegeben — nach einigen Querelen an dem traditionsreichem Haus, das sich freilich auf seine Tradition keineswegs mehr verlassen kann. Denn die Reichweite der plattdeutschen Sprache zeigt seit Jahrzehnten abnehmende Tendenz.
Dass Michael Lang, der Intendant des Hauses, einen Weg der Erneuerung sucht, indem Stücke spielt, die – so wie Hauptmanns „Ratten“ – eine dramaturgische Basis für platt- und hochdeutsch gemischtes Spielen bieten, macht vor diesem Hintergrund durchaus Sinn; auch wenn die Traditionalisten des Hauses das nicht wahrhaben wollen. Im April werden Anke Kell und Nora Schumacher als Leitungsteam Yeginers Nachfolge antreten. Man darf gespannt sein, welchen Weg sie, beide dem Haus in anderen Funktionen bereits verbunden, einschlagen werden.