Foto: Das Schauspiel-Ensemble des Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau im neuen Stück von Lukas Rietzschel © Pawel Sosnowski
Text:Andreas Herrmann, am 21. Januar 2024
Selten war man so gespannt auf eine Bürgermeisterwahl wie 2019 in Görlitz: Nur knapp unterlag der AfD-Kandidat. Autor Lukas Rietzschel hat die Kontrahenten in „Das beispielhafte Leben des Samuel W.” künstlerisch verarbeitet und es dem Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau damit nicht nur leicht gemacht.
Mehr als 100 Gespräche in 80 pausenlosen Minuten auf der ausverkauften Zittauer Hinterbühne sind versprochen. Lukas Rietzschel, 1994 in Kamenz geboren, erzählt in seiner Uraufführung „Das beispielhafte Leben des Samuel W.” und erzeugt einen im südöstlichen Dreiländereck der Republik bislang unbekannten Premieren-Medienansturm.
Nun war es für Kenner der prekären Politszene in Ostsachsen vorab leicht zu erraten, wer hinter Samuel W. stecken soll. Das Gerhart-Hauptmann-Theater hatte es vorab als offene Frage angeboten: „Ein Gedanke? Eine Idee? Steht Samuel W. für einen Ort? Oder für eine Zeit?” Die Antworten darauf sind rasch gegeben: Der weiten Gedankenwelt von Theaterintellektuellen steht die enge Ideenwelt eines Spießers gegenüber – vom Autor notiert in Görlitz im Sommer 2022, auch auf frei erfundenen Gesprächen beruhend, wie von ihm vorangestellt.
Heikle Wahl in Görlitz
Die Grundszenerie stammt aus dem heißen Spätfrühjahr 2019. Man fürchtete in ganz Sachsen, Görlitz könnte die erste deutsche Stadt mit einem AfD-Oberbürgermeister werden. Und es gab zwei sehr volle und impulsive, aber friedliche Wahlforen im Görlitzer Musiktheater. Am Ende obsiegte Solo-Trompeter Octavian Ursu, Bukarester des Jahrgangs 1967, über Polizeikommissar Sebastian Wippel, Görlitzer des Jahrgangs 1982 – beide seit 2014 stete Kontrahenten im Landtag, im Stadtrat oder im Kreistag.
Was dabei an Hintergrundwissen zum Verständnis hilft: Der ehemalige Görlitzer Kulturbürgermeister Michael Wieler, von 1999 bis 2008 Intendant am Musiktheater der Stadt, hatte damals eigens die grüne Landtagsabgeordnete Franziska Schubert erfolgreich überredet, rasch in die Stadt zu ziehen und mit Unterstützung vieler anderer für seine „Bürger für Görlitz” anzutreten. Nur dies verhinderte einen klaren Sieg Wippels gleich in der ersten Runde.
Hätte Die Linke dabei auf ihre chancenlose Zählkandidatin verzichtet, wäre Görlitz vielleicht der Ruhm einer ersten wie einzigen grünen Oberbürgermeisterin in Sachsen zugefallen. Denn Schubert wurde in der ersten Runde nur knapp hinter dem amtierenden CDU-Bürgermeister (seit 1990 am Theater und zum Zeitpunkt der Wahl schon Fraktionskultursprecher im Landtag), überraschend knapp Dritte. Sie zog dann zugunsten der Fintenpointe zurück.
In einem Teil der Bühnenhandlung arbeiten Figuren auf einer Hausbaustelle und sprechen über Samuel W. Foto: Pawel Sosnowski
Abgründe der Geschichte in Sachsen
In Rietzschels Stück, zuerst als Film in der Maske des Theaters spielend, geht es nun darum, dass der nervöse Kandidat aller Guten, ein Hoffnungsträger namens Bernd, seinem Gegenüber, der nach der ersten Runde vorn liegt, vor dem Wählerforum im aufgeregten Haus noch einmal die Hand gibt und man sich gegenseitig alles Gute wünscht. Doch die Adjutanten der beiden Gegner verhindern dies – zu viel Presse im Theater, schädlich fürs Mindset und der Siegermentalität abträglich.
Vorn auf der Bühne als zweiter Handlungsebene basteln fünf weiße Handwerker, Trockenbauer (und -bäuerinnen) mit Schutzhelm, eine reinweiße Eigenheimidylle mit Gartenzaun zur Nachbarin und Minibäumchen sowie einem runden Pool mit weißem Delphin. Dabei verfallen sie rasch ins Tratschen über Samuel W.: Kindheit, Eltern, Schulzeit, Hobbys (Panzer basteln und ein Delphinbuch schreiben), Klamotten (schwarz und körperbetont), seine eindrucksvolle körperliche Gestalt – und seinen ersten langen Ledermantel von der Oma, den er im Gymnasium trug.
Sie reden darüber, dass er als Atheist ja gar nicht so fleißig sein müsste wie die Protestanten, die das ja nur für den Himmel tun. Auch sei er stolz gewesen, „der Führer” genannt zu werden. Es wird über Hakenkreuzaufkleber spekuliert und dass er immer andere vorgeschickt hätte – und über seine Motive zur Berufswahl. Ein weißer Nazibulle kommt mit weißem Bobbycar und blauer Rundumleuchte reingerauscht. Ein weißer Dieb mit weißer Augenmaske will „hier nichts sagen, das Samuel belasten könnte.”
Ein bisschen wird dabei auf Hauptschuldeutschniveau über die Görlitzer Nachwendezeit doziert. Es war nämlich nicht alles gut im Osten. Zum Beispiel hat man in der Arbeitszeit regelmäßig geschlafen, sogar auf dem puren Fußboden – unvorstellbar, oder? Dahinter, auf dem Podest liefert die Görlitzer Tänzerin Elise de Heer, verkleidet als kleiner dicker Führer mit ordentlichem Seitenscheitel, eine Art Zeitlupenperformance – eine Mischung aus Rhetorikposen und Gebärdensprache.
In dem Stück von Lukas Rietzschel werden Interview-Sequenzen und Szenen kurz angespielt. Foto: Pawel Sosnowski
Blitzlicht statt Handlung auf der Bühne
Ingo Putz, seit Sommer 2021 Schauspieldirektor am Gerhart-Hauptmann-Theater, hat den Großteil seiner besten Ensemble-Mitglieder und seinen Ausstatter Sven Hansen am Start. Aber es gelingt ihm jenseits der veritablen Filmsequenzen (die dreieinhalb der acht Akte umfassen) nur mäßig, eine fassbare Handlung zu generieren.
In der ersten Hälfte verliert man sich rasch in tiefenpsychologischer Ostalgie (Tagebauende, Luftverschmutzung, Industrieschwund, Spekulationen über Schulzeit und Elternhaus). Die wilde Jugendphase des W. um die Jahrtausendwende herum wird mit den üblichen Weltereignissen abgetan. Sein Berufsweg als Soldat und Polizist wird als logisch erklärt. Der Weg von der FDP in die AfD und der rasche Aufstieg in Ämter scheint suspekt. Nur konkrete Nachweise über Missachtung von demokratischen Gepflogenheiten, die den Ansatz mit dem Fokus auf eine einzelne Person unter Missachtung des ethischen Imperativs vielleicht begründen könnten, fehlen. Auch die Tanznummer im Hintergrund erschließt sich nur über große gedankliche Umwege.
Zwischen Theater und Realität
Rietzschels 100 Quellen bleiben natürlich anonym und sind meist hingeworfene Sequenzen ohne Kontext. Einzig die Filmszenen enthalten echte Dialoge: Paul-Antoine Nörpel spielt dort den neuen wie fiktiven Görlitzer Oberbürgermeister Bernd als Sympathen. Dabei dürfte der echte Görlitzer OB im Saal über die sentimentale Zögerlichkeit und das Infragestellen der ganzen Inszenierung nicht sonderlich amüsiert gewesen sein.
Immer begleitet wird Nörpel von Marc Schützenhofer als schmieriger Parteifreund – und gelegentlich abgewimmelt von Achim, also David Thomas Pawlak als Adjutant der Gegenseite. Martha Pohla und Sabine Krug spielen mit der ihnen eigenen Präsenz ihre Rollen als Ehefrau und Nachbarin. Alle haben als Quintett etliche Chorszenen, die hier nicht so gut funktionieren wie bei Putz’ allseits gelobten „Kohlhaas“.
Viele Frage in der Lausitz
Im Dreiländereck bleiben so jenseits der Darbietung nach der Premiere mehr Fragen als Antworten offen: Vor allem jene, warum man die Uraufführung, so man gewagt auf Abstraktion weitgehend verzichtet, nicht sofort nach Görlitz brachte. Kennt man die Befindlichkeiten zwischen den beiden Städten, die sich auch heute nicht nur politisch nicht grün sind, sondern auch beim Personal in eigentlich gemeinsamen Institutionen wie Theater und Hochschule widerspiegeln, nicht?
In Zittau ist jedenfalls die lokale politische Lage ein völlige andere. Die Görlitzer Farce ist dort nur Randthema und dieses „beispielhafte Leben” einfach jenes von Anderen. Und warum man damit just jetzt erst rauskommt, wo das ganze Land brodelt – und ob man wohl weiß, warum man in Görlitz Parteibüros in obere Etagen verlegen muss. Und vor allem: Warum stemmt man so eine aufwändige Inszenierung nicht mutig auf die große Bühne? Die plötzliche Schlusspointe überrascht dann doch: Samuel tritt nicht zum Duell mit Bernd und zur zweiten Runde an, weil er nun ganz plötzlich der nächste Innenminister würde – auf welcher Ebene, bleibt dabei offen.
Darob großer Jubel im weißen Volke, die Gefahr, dass der Delphin zum lokalen Hai im tollen Hechtteich wird und alles umkrempelt, ist gerade noch einmal gebannt. Alle rufen: „Lang lebe der Bürgermeister, lang lebe die Demokratie“ und fallen um. Der kleine, dicke, dunkle Rhetoriktabletänzer im Hintergrund hat gewonnen und spult sein Programm in einer reichlichen Minute noch einmal schnell ab. Der herzliche Beifall kommt reflektiert und ohne Jubel und stehende Ovationen daher – der kommende Görlitzer Dreifachwahlkampf hat gestern in Zittau begonnen.