In Chemnitz liegt dafür als Sinnbild ein Piñata-Stierkopf auf dem langen weißen Tisch, zu dem eine recht junge Europa (Annika Ziegler) spricht und den sie später mit Hilfe ihrer älteren Version (Vera-Cosima Gutmann) in kleine Stücke schlägt. Während sie den Tisch mit rotem Plastik-Geschirr wie für einen Kindergeburtstag deckt, erklärt diese ältere Europa, dass sie einen Kontinent ohne Blut und Machtkämpfe aufbauen will. Dieses Vorhaben ist natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt: Immerhin hat ihre Geschichte im neuen Land schon mit dem Schlachten des Stiers begonnen. Und so bekämpfen sich auch die kleinen Könige, die mit Kronen aus rotem Plastikgeschirr an der Tafel sitzen, immer wieder.
Klares Farbkonzept auf der Chemnitzer Bühne
Auch später geraten die Menschen Europas immer wieder aneinander. Sie werden bei der Gerechtigkeit für alle nicht berücksichtigt. Schon gar nicht nachdem die Philosophie mit einer Lockenperücke aus roten Plastikbechern den Individualismus erklärt hat. Später ziehen sie los und erweitern die schachbrettgemusterte Spielfläche, indem sie rechts und links weitere Matten anlegen – Landnahme nennen sie die Kolonisierung. Dass sich Europa später beschwert, dass nun mal nicht für alle Platz sei, bekommt schnell einen schalen Beigeschmack. So geht es weiter. Vorbei an Krieg und Mauer, an Umweltsünden und Zukunftsvision.
Ausstatter Felix Remme hat sich für eine klares Farbkonzept von Schwarz-Weiß-Rot entschieden. Das fünfköpfige Ensemble ist in schlichte weiße Kleider gewandet und in einem Fall in weiße Leggins, die mit roten Elementen variiert werden. Die Frauen tragen Perücken in Powergrau mit geflochtenen Strähnen, die an die Drachenmutter aus „Game of Thrones“ erinnern und ihnen etwas ätherisches geben. Das rote Partygeschirr vom Anfang taucht immer wieder auf, während die lange Tafel sich zwischenzeitlich in eine Wippe verwandelt.
Regisseurin Sandra Maria Huimann bebildert vor allem den Text, der von Wortspielereien und Bedeutungsverschiebungen lebt. Dass es ihr dabei gelingt, ein Kind überzeugend einzubinden, ist durchaus bemerkenswert – nicht umsonst wird oft davor gewarnt mit Kindern und Tieren zu arbeiten. Auch die anderen Ensemble-Mitglieder bekommen ihre Momente, um zu glänzen: Katka Kurze und Katja Marie Luxembourg, die beide später auch die Rolle der Europa übernehmen werden, wirken als Bauern, also als Verliererinnen der Geburtslotterie so herrlich verloren und irritiert. Christian Ruth, sonst immer arg überzeichnend, überzeugt als Priester derart, dass das Publikum kaum ein Bonbon von ihm annehmen will. Als Vera-Cosima Gutmann eine Art Blinde-Kuh-Spiel voller Zorn beendet, berührt das.
Inszenierung in Chemnitz kratzt an der Oberfläche
Doch diese Momente überzeugen auch, weil sie aus einer dahinplätschernden Inszenierung ragen. Gutmanns Dialoge wirken oft belehrend und aufgesagt, als wäre es zu viel Text für eine echte Figur – da hilft auch ihr Ansatz einer aufgekratzten und übermotivierten Europa nicht. Dass der zweiköpfige Chor der Schwester absurd mit Echos spielen und bei jeder Erwähnung von „Leben“ eine überdrehte Gestalt mit aufgetackerten Kuscheltieren über die Bühne rennt, entlockt nur wenigen im Publikum Lacher.
In bunte Jacken gekleidet reichen sich die drei Erwachsenen staatsmännisch die Hände. Sie erzählen vom Regenbogen, der über alle scheint, aber nicht unter Druck geraten darf, um nicht zum Braun gepresst zu werden. Währenddessen schieben sie die Kinderdarstellerin, die mit Schwimmweste an Flüchtende gemahnt, schroff zur Seite. Dieses Bild erinnert doch überraschend (immerhin war die Uraufführung des Stücks bereits 2018) an die aktuelle Debatte, in der Konservative die Pläne der Rechten umsetzen wollen, um ihnen die Stimmen zu nehmen.
Gleichzeitig gibt es wenig große Aha-Momente – dass Könige in Europa sich ständig bekriegten ist ebenso bekannt, wie die Tatsache, dass Kolonisation keine humanistische Mission war. Dass ein Ritt durch gut 4000 Jahre Kontinentalgeschichte so langsam sein kann, erstaunt durchaus. So dümpelt „Europa flieht nach Europa“ in Chemnitz dahin und sorgt für leichte Ermüdung im Publikum. Wie wir die Blutgeschichte überwinden, wird nicht klar. Stattdessen wird auf der Bühne optimistisch in die Zukunft getanzt – schön, wenn es so einfach wäre.