Wie zu erwarten gehört die größere Aufmerksamkeit dem anderen Blick auf „Sacre“. Goyo Montero wagt ihn nach einer tiefen Verbeugung vor Pina Bausch, deren Interpretation er für unübertrefflich erklärt, um sich demonstrativ davon lösen zu können. Die Archaik, der stampfend besetzte erdige Urgrund der legendären Wuppertaler Inszenierung, ist getauscht gegen klinisch sauberen Tanzboden, der trittfeste Kunst garantiert. Mit Bühnenbildnerin Eva Adler entwickelte der Choreograph seinen Denk- und Dekorationsraum, der zeitweilig von einem riesigen Ufo beherrscht wird. Das schwebende Ring-Objekt, das aus dem Bühnenhimmel fahrend nach allen Seiten kippen kann, ist nacheinander Licht-Dusche und Spotlight, Sternenhimmel oder auch Dornenkrone, repräsentiert unbekannte apokalyptische Sphären und setzt vorübergehend am Boden auf wie ein mobiler Gefängnis-Rundbau. Dort suchen taumelnde Gestalten nach Orientierung, brüllen mit tierischen Lauten (nicht von Strawinsky!) das Opfer nieder und bestaunen dessen scheinbar unermesslichen Kraftreserven wie ferne Hoffnungsschimmer. Nicht der grausame Gottesdienst mit dem Zusammenbruch steht bevorzugt im Blick, in der totalen Verausgabung schimmert gleißend die Lust auf Empathie, wird so zur Basis aller Überlebenskunst proklamiert. Montero choreographiert einmal mehr das ganze Ensemble als Kollektiv-Ereignis (dem sich selbst außergewöhnliche Artisten wie Alexsandro Akapohi unterordnen), das dem latenten „Erdbeben“ des Strawinsky-Klangs ausgesetzt ist. Ergebnis: schaurig-schöne Katastrophen.
Dieses Naturereignis entwickelt allerdings im Orchestergraben deutlich stärkeren Sog und mutigere Dynamik als in der Szene. Dirigentin Joana Mallwitz hat dem Choreographen für die Proben eine frühe Bernstein-Aufnahme empfohlen, dann aber alle Weichzeichner konsequent abgeschaltet. Ihr „Sacre“-Sound ist bekennend robust in der Rhythmik, versponnen sanft in der erblühenden Poesie, explosiv im Zusammenstoß. Die groß besetzte Staatsphilharmonie spendiert Hochglanz wie ein Weihnachtsgeschenk an die Sparten-Nachbarn vom Opernhaus.
Bei Douglas Lees „Petruschka“ sind Klang und Szene deutlich weiter voneinander entfernt, manchmal sogar auf unterschiedlichem Level. Der schräge Jahrmarkt, den der Komponist mit Volksmusik-Travestie einseift, wird zum chic stilisierten Revue-Rahmen für die Auferstehung der Puppen-Monster. Dort ist Gruppentherapie im Gemeinschaftsraum, man überprüft mit Extrem-Aktionen die eigene Leistungsbereitschaft, vergewissert sich seiner trainierten Fähigkeiten, sucht die Kontrolle der Herausforderung. Während das Mallwitz-Orchester in höchster Vulgär-Raffinesse die schräggestellten Drehorgel-Motive ebenso auskostet wie die deliziösen Minimalismus-Vorläufer (und den aufmerksamen Zuhörer gar mit dem Anschwimm-Motiv aus dem „Weißen Hai“ belohnt), meidet der Choreograph den Sprung auf diese Angebote. Er fürchtet sich offenbar vor dem schwarzen Witz, mag seine übersichtlich geordnete Körpersprache erst spät im finalen Teil für den drastischen Taktwechsel öffnen. Dagegen lässt er (mit Hilfe des in beiden Teilen des Abends gut beschäftigten Lichtdesigners Karl Wiedemann) die ganze Compagnie wie eine Glühwürmchen-Parade tänzeln, ehe der Traum im Tod verendet. Schön anzusehen, jahreszeitgemäß.
Dass bei einer handwerklich glänzenden Ballett-Premiere der Beifall zum musikalischen Beitrag den in Nürnberg ohnehin immer hohen Applaus-Pegel für den Tanz sogar übertrifft, hat nicht nur mit der aktuellen Ranking-Popularität von Joana Mallwitz zu tun, das schon auch, aber es spiegelt korrekt das Produktionsergebnis wieder. Aus dem Graben klingt der Strawinsky so jung, wild und offen, dass man bei der zögerlichen Radikalität der Übersetzung dieser Energiestöße für die Szene einfach einen Schub ins Geniale vermisst. Ja wirklich, das Ohr sieht mit.